11 Comments
Dec 13, 2022Liked by Petra Erler

Wenn man die Bruchlinien und Entscheidungssituationen Merkelscher Politik genauer in Augenschein nimmt, fallen die Glaubensbekenntnisse auf, die wie aus einem Musterkoffer hervorgezogenen wurden, um möglichst große Teile des Wahlvolkes hinter sich zu versammeln. „Marktkonform“ war gut, „Transparenz“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ konnte nahezu jeder Wähler abnicken. Im Jahr 2021 – in ihrem letzten Regierungsjahr - ignorierte sie die halbleeren Gaslager, während andere europäische Länder mit staatlichen Maßnahmen gegenzusteuern versuchten. Nach dem letzten EU-Gipfel schrieb sie ihren Kollegen in Europa sogar ins Stammbuch, sie sollten für – was wohl – mehr „Transparenz und Wettbewerb“ sorgen. Ob alle genickt haben, wurde nicht berichtet. Aber die Presse war kurzfristig (wie so oft) auf ihrer Seite. Dass der Energie-Markt in der EU eigentlich gar nicht existiert, weil das teuerste Kraftwerk nach den Regeln den Preis vorgibt, wurde ausgeblendet. Und Merkel nutzte die Unwissenheit - Markt klang einfach verführerisch. Eine Lösung bot ihre Darbietung nicht, kam aber ganz gut an.

Jahre zuvor bedrohte Fukushima ihre Wiederwahl. Angesichts der sich verschiebenden Mehrheiten waren auch deutsche Kernkraftwerke plötzlich nicht mehr sicher, die (laut Merkel) eigentlich sicher waren. Aber die Wähler waren nun einmal durch den Tsunami zu den Atomenergiegegnern gespült worden, die Kernschmelze in Japan bedrohte ihre Kanzlerschaft; und sie hatte gelernt, wie man Mehrheiten fängt…

Bei Kampfsportlern ist die „Meidbewegung“ ein wichtiges Defensivmittel, um nicht getroffen zu werden. So gelang ihr verbales Wegducken im Abhörskandal mit dem empörten Satz: „Abhören unter Freunden, das geht gar nicht!“ Alle nickten, manche sicher beeindruckt, weil Frau Merkel zum ersten Mal emotional wurde; politische Konsequenzen zog sie aber nicht. Sie stand „in Treue fest“ zur atlantischen "Freundschaft". Und die meisten Bürger waren beruhigt angesichts so authentischer Regungen. Unterstützung für Edgar Snowden oder Julian Assange waren für die Stasi-Erfahrene Merkel dagegen nie ein Gebot, auch nicht nach ihrer Regierungszeit. Die westlichen Werte gehörten zwar fest zur Dekoration der Bühne, aber dabei ließ sie es auch immer bewenden. Dass Deutschland und Europa trotz dieser geheimdienstlichen Übergriffe nicht einmal befähigt wurden, ein eigenes Cloudsystem aufzubauen oder eine eigene Suchmaschine zu entwickeln, ist ein irreparabler Schaden für die Unabhängigkeit unseres Landes in der digitalen Zukunft. Mitverantwortung trägt sie auch dafür.

Gut verinnerlichter Opportunismus – wie Columba sagt - kombiniert mit Gespür für eigene Risiken sind zwar eine brauchbare Überlebensstrategie aber eben keine gute Politik; die muss auf die Zukunft gerichtet sein. Das war sie bei ihr nur in Bezug auf die eigene Person.

Sie hätte es fast geschafft, weltweit als Klimapolitikerin durchzugehen, vielleicht sogar als Friedenspolitikerin, wenn jetzt nicht ihre eigene Redseligkeit im Blick zurück einen Strich durch diese Rechnung zöge. Worte schaffen eigene Wirklichkeiten, Deutungsmuster und Konsequenzen, gerade im Ringen um friedliche Lösungen in Konflikten, in denen bereits geschossen und gestorben wird. Vermutlich spielen Vertrauen, Klarheit und Glaubwürdigkeit wohl nie eine größere Rolle. Ihre Äußerungen (zu Minsk I und II) werden nicht nur im aktuellen Krieg die Verhandlungen um einen Waffenstillstand oder um Frieden belasten. Rückblickend Friedensverhandlungen als besonders gelungene Täuschung zu bezeichnen mag spieltheoretisch durchgehen und am Computer keinen Schaden anrichten; im wahren Leben könnte der Schaden unabsehbar sein.

Expand full comment
Dec 12, 2022·edited Dec 12, 2022

Ich halte Merkel eigentlich eher für eine gnadenlose Opportunistin. Ich erinnere mich an die Gesprächsrunde mit dem weinenden syrischen Mädchen, dem sie ungerührt erzählte, dass man eben nicht jeden herein lassen könne. Es gab einen ziemlichen Shitstorm und kurz danach die 180°-Wende, auch angesichts der Bilder der Elendstrecks. Nachdem sie das Problem dann den Bürgern aufgehalst hatte und die Flüchtlinge vor allem in armen Vierteln untergebracht wurden, -die reichen Bürger Hamburgs z.B. machten sich in der Form Sorgen um die Heimatlosen, als sie meinten, die würden sich in ihrem Viertel sicher nicht wohl fühlen, weil es da kein ALDI gäbe-, kam wieder die Kehrtwende, jetzt dürfen die EU-Grenzländer das Problem ausbaden und unsere vielgerühmten Werte werden an den Außengrenzen heldenhaft verteidigt gegen Menschen die auffällig dunklere Haut und schwarze Haare haben.

Ähnlich lief es bei der Atomkraft, erst aus dem Ausstieg ausgestiegen, dann nach Fukushima plötzlich der Ausstieg aus dem Wiedereinstieg oder auch umgekehrt.

Und jetzt, nachdem unsere grandiosen Medien am liebsten die Entspannungspolitik Brandts als fatalen Irrtum darstellen und bald sicher schon als perfide russische oder Putin'sche Strategie entlarven werden, muss Merkel doch klarstellen, dass sie nie diesem Teufel in Menschengestalt auf den Leim gegangen ist und in strategischer Scharfsicht diesen Krieg und die, aber sowas von imperialistischen Absichten Putins voraussah und die Ukraine entsprechend vorbereitete bzw. sich vorbereiten ließ.

Schließlich gab es vor und zur Zeit des Minsk-Abkommens große Empörung über die einseitige Berichterstattung, da musste man noch den Verhandlungen den Vorzug geben, nachdem die Bürger nun seit fast 20 Jahren weich gekocht wurden mit dieser Propaganda, war die Zeit reif für den Krieg und damit musste man halt rückwirkend die alte Politik zum fatalen Irrtum oder zur intelligenten Strategie erklären, damit die Unterwerfung durch den Hegemon nicht allzu offensichtlich wird.

Und dass der Westen lügt, "wenn er die Hand reicht", ist ja eigentlich nichts wirklich Neues. Das mussten schon viele erfahren und dass er besonders in der Gestalt des Hegemons lügt, wenn er Kriege anzettelt um "seine" Ressourcen zu sichern, haben auch schon viele Länder erfahren müssen. Wer glaubt dem Westen eigentlich überhaupt noch?

Expand full comment

Zur Ergänzung:

https://www.moonofalabama.org/2022/12/minsk-ii-was-agreed-on-to-arm-ukraine-did-merkel-really-say-that.html (Mit Deepl Ausschnitte übersetzt)

"In dem Interview scheint Merkel zu behaupten, dass die Minsker Vereinbarungen zwischen der ukrainischen Regierung und der Donbass-Region, die sie ausgehandelt und als Garantin mitunterzeichnet hat, nie dazu gedacht waren, erfüllt zu werden. Sie sollten lediglich Zeit für den Aufbau des ukrainischen Militärs schaffen.

Ich denke jedoch, dass eine solche Interpretation falsch ist. Merkel steht nicht nur in den USA, sondern auch in ihrer eigenen konservativen Partei unter sehr scharfer Kritik. Sie ist jetzt darauf aus, ihre früheren Entscheidungen sowie das derzeitige schlechte Ergebnis in der Ukraine zu rechtfertigen. Ich habe den Verdacht, dass sie sich die Dinge nur ausdenkt. Leider richtet sie damit auch großen Schaden an. (..)

Die Minsker Vereinbarungen waren ein ernsthafter Versuch, einen Krieg durch die Wiedereingliederung des Donbass in eine föderalisierte Ukraine zu verhindern.

Der ukrainische Präsident Poroschenko hatte jedoch nicht den Willen und den politischen Rückhalt, die Vereinbarung zu erfüllen. Es bestand keine Chance, dass unter ihm ein Föderalisierungsgesetz das ukrainische Parlament passieren würde. Außerdem hatten die USA, die einzige Partei, die ihn wirklich hätte unter Druck setzen können, ihm gesagt, er solle sich nicht an die Vereinbarung halten. Doch dann kam Zelensky, der mit großer Mehrheit gewählt wurde, weil er versprach, Minsk II zu erfüllen. Er unternahm sogar Versuche, dies zu tun. Aber er fand bald heraus, dass sein eigenes Leben in ernster Gefahr war, wenn er es weiter versuchte. Es gab auch Druck von Seiten der USA, die nicht wollten, dass Minsk erfüllt wird. Merkel kann das aber nicht laut sagen. Ende 2019 muss sie erkannt haben, dass Minsk II für immer blockiert war. Das war eine schwere Niederlage für sie, aber sie konnte nichts dagegen tun.

Deshalb kommt sie jetzt im Nachhinein mit einer Chamberlain-Ausrede daher. Das Münchner Abkommen von 1938, das Chamberlain unterzeichnete, hinderte Deutschland daran, sofort in den Krieg zu ziehen, und gab dem Vereinigten Königreich und anderen Ländern Zeit, aufzurüsten. Das Minsker Abkommen, so behauptet Merkel jetzt, habe der Ukraine Zeit verschafft, ihr Militär in einen besseren Zustand zu versetzen (..)

Wenn Sie glauben, dass das Argument der "gekauften Zeit" stichhaltig ist, schauen Sie sich die Situation in Russland an und vergleichen Sie sie mit der Ukraine und dem Rest Europas. Wer hat die Zeit besser genutzt? Wer befindet sich jetzt in einer besseren Position?

Das Problem mit Merkels bedauerlicher und falscher Ausrede ist, dass sie, wie Korybko betont, echten Schaden anrichtet. Jeder, auch der russische Präsident Putin, scheint nur diesen einen Absatz mit dem Ex-post-Argument zu lesen und nicht den gesamten Kontext. Das macht es viel schwieriger, den Krieg in der Ukraine zu beenden.

Putin sagt jetzt, er habe an Merkels Ernsthaftigkeit in Bezug auf Minsk geglaubt. Jetzt ist er tief enttäuscht. Mit wem kann er über Frieden reden, wenn jeder auf der anderen Seite nicht zustimmungsfähig ist?

Ich hoffe, dass Putin das Interview noch in seinem vollen Kontext liest und seine Meinung ändert.

War es Merkels Absicht, das Vertrauen zu untergraben? Ich weiß es nicht. Warum sollte sie?"

Ich denke, es geht vor allem um sie selbst. (Columba)

Expand full comment

Liebe Frau Erler,

Sie fragen sich, warum Merkel plauderte?

Nehmen wir mal an, dass Merkel das in Absprache mit ihren amerikanischen Gönnern tat.

Die Folge: Deutschland ist für Russland "gestorben", so weit das Augee blickt und auch wieder zurück.

Schlimm? Für Deutschland ganz ohne Zweifel. Ich bin fest davon überzeigt, dass dieses deutsche Land und sein Volk, die, die schon länger hier Leben ... , für die Beschlüsse und Bekenntnisse einer Merkel und auch eines Scholz noch sehr teuer und bitter bezahlen werden müssen.

Und die USA?

Die können mit dieser "Merkel-Offerte" (vielleicht sollte man besser sagen: Merkels letzte Rache) ganz ungehemmt weiter Krieg planen und spielen! Denn wenn Deutschland und Frankreich (genau die Sarkozy-Offerte) nicht rauskommen aus der Nummer, so kann das auch die gesamte EU nicht.

Expand full comment

Ich möchte dem Artikel und der Diskussion nur stichpunktartig einige Gedanken hinzufügen:

„Ich glaubte, es ginge ihr darum, wie sie erinnert werden möchte. Inzwischen fürchte ich, ich lag damit falsch. Merkel geht es um die Gegenwart und um die Zukunft.“

Ich denke, dass eine klare Abgrenzung zwischen Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft hier vielleicht gar nicht möglich ist. Wer sich von seiner Vergangenheit distanziert, indem er „Fehler“ eingesteht (wie Steinmeier), sichert sich damit seine Gegenwart und Zukunft. Merkel ist anders vorgegangen und schreibt ihre frühere Politik kurzerhand um (das zumindest ist meine Interpretation bzw. Vermutung). Ihre Ziele sind wahrscheinlich die gleichen: Rettung ihres politischen Erbes und Vorsorge gegen eine Dauerpfählung durch Politik und Medien, wie sie z.B. bei Schröder stattfindet.

„Es ist völlig unklar, ob man in Deutschland überhaupt schon verstanden hat, was Frau Merkel angerichtet hat.“ Dem könnte man hinzufügen, dass auch bezweifelt werden darf, ob Frau Merkel selbst das in seiner ganzen Tragweite verstanden, sprich: zuvor bedacht hat. Und da habe ich so meine Zweifel. Egal ob sie damals log und betrog und jetzt die Wahrheit sagt oder umgekehrt: Das Ergebnis ist dasselbe.

Warum sollte noch irgendein Land dieser Welt außerhalb von NATO und EU Deutschland Vertrauen schenken? Wenn ihr das wirklich klar gewesen wäre, hätte sie vielleicht besser den Mund gehalten.

Im Zusammenhang mit den Merkelschen Aussagen fiel mir unwillkürlich ein Gespräch von Robert Cibis mit Hauke Ritz ein, in dem dieser u.a. von den „analytischen Fähigkeiten“ und der „Macht des Konzepts“ spricht, die den Entscheidungsträgern in Europa verlorengegangen sind. Siehe

https://www.oval.media/5f1239f1-8a02-4dd4-acc1-e02920327be0/

(ab ca. 41:00 sowie 53:30)

(Der youtube-Kanal von OVALmedia wurde vor 4 Monaten gelöscht.)

Jeder einzelne Deiner Artikel, liebe Petra, beweist mir, dass Du diese analytischen Fähigkeiten besitzt, die wir so dringend benötigen.

Expand full comment