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Liebe Frau Erler,

ich habe mich in den letzten Tagen intensiv mit einem Thema auseinandergesetzt, das das Ihre sehr eng berührt. Es wurde mir dabei zum wiederholten Male klar, dass viele wichtige Details (noch) nicht Teil der Debatte sind. Doch ohne diese Details wird das Bild verfälscht.

Sie schreiben:

"Es ist eindeutig, dass die Zusage der Achtung der territorialen Integrität der Ukraine durch Russland 2014 und 2022 verletzt wurde. Ebenfalls verletzt wurde der Freundschaftsvertrag Russland-Ukraine von 1997."

Damit suggerieren Sie, dass Russland der Übeltäter ist, dass Russland diesen Freundschadftsvertrag verletzte.

Das ist ein Argument, das permanent die Erzählung des Westens zu stützen versucht. Ich gehe davon aus, dass Sie den von Ihnen erwähnten Freundschaftsvertrag im Detail auch nicht kennen, oder?

Die Integrität des Territoriums der Ukraine ist verletzt. Ja, auch durch Russland. NUR durch Russland? ZUERST durch Russland?

Ich möchte das Folgende zur Debatte stellen und würde mich sehr über Reaktionen freuen:

Das Dokument, das die russisch-ukrainische Zusammenarbeit grundsätzlich absicherte, war der „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine" aus dem Jahre 1997.

In Artikel 2 heißt es, dass die Parteien

"die territoriale Integrität der anderen Seite respektieren und die Unverletzlichkeit der zwischen ihnen bestehenden Grenzen bestätigen".

Es ist unstrittig, dass Russland seit dem 22. Februar 2022 diesen Artikel massiv verletzt. Doch ein Vertrag wirkt immer als Gesamtwerk, im Zusammenspiel aller seiner Komponenten. Bei der Beurteilung der Vertragstreue der Unterzeichner und der Ursache-Wirkung-Beziehungen ist also eine selektive Betrachtung einzelner Artikel unzulässig.

In Artikel 6 des genannten Vertrags heißt es:

"Jede der Hohen Vertragsparteien unterlässt es, gegen die andere Hohe Vertragspartei gerichtete Maßnahmen zu ergreifen oder zu unterstützen, und verpflichtet sich, mit keinem Drittland Verträge zu schließen, die gegen die andere Partei gerichtet sind. Keine der Vertragsparteien lässt zu, dass ihr Hoheitsgebiet zur Beeinträchtigung der Sicherheit der anderen Vertragspartei benutzt wird.“

Es bedarf einer sehr ehrlichen und sehr detaillierten Debatte, um Licht in das vom Westen fabrizierte Dunkel rund um die Ukraine zu bringen.

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Hier ist der Text des Vertrages von 1997 - ich schreibe niemals über ein Abkommen, das ich nicht genau kenne

https://treaties.un.org/doc/Publication/UNTS/Volume%203007/Part/volume-3007-I-52240.pdf

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Wir führen, lieber Rene Zittlau, die gleiche Diskussion immer wieder, und wir werden uns an dem Punkt nicht einigen. Das eine ist das Völkerrecht, das auf jeden Fall geschützt werden muss und da gibt mE. auch gar kein Vertun. Auch wenn sich ein Nachbarland "unfreundlich" positioniert, DARF man es nicht überfallen und die Staatenmehrheit macht das auch immer wieder deutlich.

Das andere betrifft die Frage, wie hätte Russland völkerrechtskonform seine Interessen geltend machen können? Was hätte es (noch) tun können - nach Genf fahren? Den Sicherheitsrat befassen? Den USA und der NATO einen weiteren Brief schreiben? Unter den Bedingungen, dass die Duma entschieden hatte? Wegen dieser Fragen gibt es mE. - außer im Westen - keine internationale Isolation Russlands- weil der Krieg eben nicht vom Himmel fiel.

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Liebe Frau Erler,

es ehrt sie sehr, dass Sie über Verträge nur in voller Kenntnis ihres Inhalts schreiben.

Umso mehr würde mich Ihre Meinung dazu interessieren, ob die Ukraine gegen Artikel 6 verstoßen hat. Wenn ja, womit und wann das zeitlich einzuordnen ist.

Dass wir immer wieder von verschiedenden Seiten auf dieselbe Frage stoßen, spricht doch dafür, dass es in der Beantwortung derselben einigen Diskussionsbedarf gibt.

Mich konnte noch niemand überzeugen, dass Russland diesen Krieg begann. Der Krieg begann, vorsichtig gerechnet, 2014 mit einem Staatsstreich und unter Einbeziehung weiterer Tatsachen weit früher.

Die Ukraine hat die eigene Bevölkerung bombardiert, und das mit allem, was zur Verfügung stand. Das war das gesamte Arsenal einer modernen Armee. Und das auch noch nach der Unterzeichnung eines vom UNO-Sicherheitsrat sanktionierten und somit völkerrechtlich verbindlichen Vertrag.

DURFTE die Ukraine das? Wer gab ihr das Recht, wer versprach ihr den Rücken frei zu halten, wenn sie gegen die Meinung der Staatenmehrheit verstösst, repräsentiert durch den UNO-Sicherheitsrat?

Und hier erneut die Fragen dazu:

- Was sind das für Garantiemächte, die einen solchen Vertrag im vollen Bewusstsein der Folgen unterlaufen?

- Was hätte Russland noch tun können? Warten bis die Ukraine in der NATO ist oder durch bilaterale Verträge den USA erlaubt, amerikanische Raketen in der Ostukraine zu stationieren?

Sie hatten ja angedeutet, nachzuforschen, welche Schritte Russland noch hätte gehen können. Sollten Sie eine solide Antwort darauf finden, so werden Sie eine der gefragtesten Experten weltweit werden, darin bin ich mir absolut sicher.

Wenn Völkerrecht gilt, dann bitte für alle. Und wenn jemand wegen dessen Verletzung sanktioniert werden soll oder muss, dann bitte auf dem von eben diesem Völkerrecht sanktionierten Weg; und der wäre ausschließlich per Beschluss des UNO-Sicherheitsrates. Alles andere ist rechtswidrig in diesem Sinne.

Die Reaktion Russlands war die Konsequenz auf all die genannten und nicht genannten Völkerrechtsverstöße durch die USA und den Westen insgesamt in Sachen Ukraine-Russland. Es wäre eine Diskussion wert zu ergründen, mit welchem Ziel der Westen schon vor dem Februar 2022 Russland in die Ecke zu manövrieren versuchte. Es ging nicht um "Unfreundlichkeiten", der Einsatz war weit höher. Nur kommt das in der Diskussion im Westen nicht vor.

Es macht für die Zukunft wenig Hoffnung für die internationale Position Deutschlands, wenn in der geplanten Sicherheitsstrategie gerade auch das Sanktionsregime im bisherigen westlichen Sinne besser koordiniert und durchgesetzt werden soll. Damit stellt sich dieses Land ganz weit außerhalb dessen, was bislang Völkerrecht war.

Es sollte deshalb niemanden wundern, was gerade andernorts zu wachsen beginnt.

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Liebe Petra Erler, herzlichen Dank für Ihre aufklärende Analyse und akribischen Recherchen. Wie wichtig Ihre Arbeit ist, lässt sich allein an dem von Ihnen thematisierten scheinbar nebensächlichen Detail belegen, dass es 2011 Putin gewesen sei, der einen Angriff auf die Ukraine angekündigt habe. Derartige Falschinformationen werden häufig an "politischen Börsen“ wie wertvolle Aktien gehandelt und sind doch nur Ramsch. Ähnlich ist es mit der umstrittenen Zustimmung Jelzins zur Nato-Osterweiterung, der er - was in westlichen Medien schlicht ignoriert wird - nach eigenen Aussagen nur unter Druck der USA zustimmte. Richtig ist, dass Jelzin 1997 ein Land regierte, dass nur noch ein Schatten seiner selbst war. Der auf westliches Drängen hin erfolgte Ausverkauf russischen Nationaleigentums - verbrämt als Privatisierung bezeichnet - führte ab 1997 zum faktischen Staatsbankrott Russlands und damit zur Degradierung Russlands zum Spielball westlicher Interessen. Ohne Poesie ausgedrückt: Clinton hat Jelzin damals schlicht erpresst.

Um den russischen Präsidenten gefügig zu machen, hatten sich die USA bei IWF für einen milliardenschweren Kredite stark gemacht, um eine drohende Niederlage Jelzins bei der Präsidentenwahl von 1996 abzuwenden. Jelzin lag damals bei gerade einmal acht Prozent und hätte sogar gegen den Kandidaten der KP Russlands verloren. „Sie (die USA) schickten Wahlkampfberater und konzipierten für Jelzin eine neue Kampagne. Außerdem überredeten die USA den Internationalen Währungsfonds (IWF), Russland - und damit dem amtierenden Präsidenten Jelzin - eine Anleihe von zehn Milliarden Dollar zu gewähren, obwohl das Land die ökonomischen Kriterien nicht erfüllte. Wir reden hier vom zweithöchsten Betrag, den der IWF bis dahin je vergeben hatte. Etwa zwei Milliarden erreichten Russland noch vor der Wahl.“ (Interview mit Dov Levin, Süddeutsche Zeitung, 23. Februar 2017).

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Vielen Dank, lieber Kostas Kipuros, für Ihre weiterführenden Anmerkungen. Auch ich empfehle wirklich JEDEM die Originaltexte im nationalen Sicherheitsarchiv der USA. Und die Erinnerungen von Sachs an seine Zeit als Berater von Jelzin - dort, wo man in Polen großzügig war, hat man in Russland gemauert.

Die entscheidende Frage aber scheint mir, was passiert mit dem Demokratieverständnis in einem Volk, dass die neue und auch ersehnte Zeit als mörderischen Raubzug (sowohl im Innern als auch von außen) erlebt? Und was, wenn die jungen demokratischen Pflänzchen von "außen" gegossen werden, so dass sie garnicht (mehr) als Eigenes erscheinen? Das ist unbedingt auch ein ukrainisches, aber auch ein russisches Thema.

Aber solches Nachdenken ist vielen fremd, so als lebten wir in einem Land ohne fatale geschichtliche Irrwege und ohne nicht Wieder-gut-zu -Machendes.

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"Das ist unbedingt auch ein ukrainisches, aber auch ein russisches Thema."

... und ein zutiefst deutsches ...

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Zum Verständnis des Konfliktes in der Ukraine hier der aus meiner Sicht sehr gute Beitrag "Die Ukrainische Tragödie" der auf der Basis des gleinamigen Buches von Nikolai N. Petro durch Ulrike Simon 30. März auf "makroskop" veröffentlicht wurde.

https://dreimallinks.de/wp-content/uploads/2023/04/The-tragedy-of-Ukraine-Artikel-4.pdf

Petro weist nach, dass der Ukraine-Krieg ein „internationalisierte Bürgerkrieg“ ist, in den weder Russland, noch der Westen aus rein moralischen Erwägungen involviert sind.

Im Westen herrscht die Meinung vor, dass Putin in seinen Reden die gemeinsame slawische Vergangenheit mit den ukrainischen Bürgern beschwöre, um seine imperialen Interessen an der Krim und dem Donbass, und womöglich gar der gesamten Ukraine zu rechtfertigen.

Putin selbst hingegen bezeichnet die von Petro dargestellte „Auslöschung der russischen Kultur“ als „Genozid“ und leitet daraus sein Kriegsziel der „Denazifizierung“ ab. Das fand Bundeskanzler Scholz „lächerlich“. Aber, unabhängig von den Begriffen und davon, ob Putin die Situation nur als Vorwand nutzt – das westliche Narrativ blendet eine große Gruppe ukrainischer Bürger und deren Kultur vollkommen aus, wie Petro verdeutlicht.

Seit dem Maidan basiere, so Petro,

„die Kulturpolitik der ukrainischen Regierung […] auf der Annahme, dass die kulturelle Einheit nur durch die Auslöschung der russischen Kultur, Sprache und Identität innerhalb der Ukraine erreicht werden kann. Diese Annahme steht im Mittelpunkt der staatlichen Politik in den Bereichen Sprache, Religion und historische Bildung …“ (Übers.U.S..)

Dass die Ukraine zum Spielball geopolitischen Auseinandersetzung werden konnte, ist Petros Einschätzung zufolge hauptsächlich auf die tiefe Spaltung zwischen den galizischen und ost-ukrainischen Bevölkerungsgruppen zurückzuführen. Und so toben in der Ukraine zwei Konflikte – der nationale und der geopolitische.

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Vielen Dank für den sehr interessanten link und Ihre Ausführungen.

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Sehr geehrter Herr Zeller,

die Kulturpolitik richtet sich vor allem aber nicht nur gegen die russische Kultur. Es geht gegen alles Andersartige außer dem Ukrainischen.

Das Sprachengesetz z.B. ist zwar vor allem anderen gegen die russische Sprache und Kultur gerichtet, aber eben auch gegen die anderen Sprachen der nationalen Minderheiten (Ungarisch, Rumänisch usw.).

Englisch und andere EU-Sprachen hingegen dürfen die Bürger im öffentlichen Leben frei nutzen ...

Das ein Staat derartige Gesetze verabschiedet, ist das Eine. Dass jedoch Deutschland mit seiner diesbezüglich unzweifelhaft sehr problematischen Vergangenheit eine solche Politik rückhaltlos unterstützt, ist in meinem Verständnis neben allem anderen ein Verrat an der eigenen Geschichte und am eigenen Volk. Ja, und letztlich auch am ukrainischen ...

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Dank für Ihre politischen Analysen, die ich immer mit Spannung erwarte, weil sie über "welt"politische Ereignisse und Zusammenhänge informieren - Informationen, die selbst zusammen zu tragen ein Wunschtraum bleiben müssten.

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Vielen lieben Dank!!!

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Liebe Frau Erler,

vielen Dank für Ihren Beitrag.

Persönlich sehe ich einen gehörigen Anteil der Schuld, beim Westen, für den Krieg in der Ukraine, seitens der NATO (USA) und auch der EU.

In Ergänzung zu Ihrem Beitrag hier nochmals die (Warnung), besser Mahnung, Jelzins vom 05. Dezember 1994 (!!), im Rahmen der KSZE-Konferenz, ob des Bestrebens der USA (NATO) sich nach Osten auszudehnen; erschienen auf der Titelseite der NYT am 06.12.1994.

"In caustic tones reminiscent of the cold war, President Boris N. Yeltsin of Russia bluntly told other world leaders in this former Communist capital that NATO was trying to split Europe with its plan to admit members from the former Warsaw Pact and that the United States should not be allowed to dominate the world."

https://www.nytimes.com/1994/12/06/world/yeltsin-says-nato-is-trying-to-split-continent-again.html

Für viele sicherlich auch interessant die Warnung vieler (ehemaliger) Spitzenfunktionäre der USA und NATO, vor einer Osterweiterung bzw. Aufnahme der Ukraine in die NATO.

https://globalbridge.ch/die-mitverantwortung-der-usa-und-der-nato-vor-der-osterweiterung-der-nato-wurde-oeffentlich-gewarnt/

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RemovedJun 15, 2023·edited Jun 15, 2023
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Die Strategie ist offen -so mein Verständnis- für die gesellschaftliche Debatte. Sie ist nicht "verordnet".

Es liegt an uns allen, finde ich, diese Chance auch zu nutzen. Deshalb DANKE, dass Sie Ihre Befürchtungen geteilt haben! Nur wenn über alles diskutiert wird, wird der richtige Weg gefunden werden.

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