Zur Russlandpolitik der EU, die es nicht gab
Eine Geschichte von Vernachlässigung und Missachtung historischer Lektionen
Kanzler Scholz begann seine Regierungserklärung am 19. Mai mit einem Zitat aus der Rede von van Rompoy, mit dem dieser die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU 2012 würdigte: “Der Frieden ist nun selbstverständlich, Krieg unvorstellbar geworden“. van Rompoy habe damit selbstverständlich nur die innere Verfasstheit der EU gemeint, fügte Scholz hinzu (ab Min. 4:50).
https://www.ardmediathek.de/video/phoenix-parlament/regierungserklaerung-scholz-und-aussprache/phoenix/Y3JpZDovL3Bob2VuaXguZGUvMjc5ODAxO
Das war ein dramatischer Einstieg, der sich der Kunst des Weglassens bediente. Denn die Scholz-Interpretation der damaligen Rede von van Rompoy war nicht korrekt. Van Rompoy wusste sehr wohl zwischen der EU und Europa zu unterscheiden, und deshalb hatte der damals hinzugefügt, dass unvorstellbar nicht unmöglich heiße.
https://www.nobelprize.org/prizes/peace/2012/eu/lecture/
Tatsächlich lohnt es sich, auch die Erklärung des Nobelpreiskomitees zur Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU 2012 noch einmal genau durchzulesen. Die EU bekam diesen Preis für sechs Jahrzehnte dauernde Anstrengung um die Einigung des Kontinents, die „in weiten Teilen“ erfolgreich war. Dem Osloer Komitee war wohl bewusst, dass das europäische Einigungswerk nicht abgeschlossen war, weder geographisch noch politisch. Es betonte damals ebenfalls: „Heute ist Krieg zwischen Deutschland und Frankreich undenkbar. Das zeigt, wie historische Feinde durch gut ausgerichtete Anstrengungen und den Aufbau gegenseitigen Vertrauens enge Partner werden können.“
Aber der Bundeskanzler wollte nicht auf die zentrale Lehre des europäischen Einigungswerkes hinweisen, die darin besteht, dass Frieden dort sicher ist, wo Europa sich einigt. Ihm ging es um die „Zeitenwende“, um Frieden, der „verteidigt“ werden muss, und das nicht mit den Mitteln der Diplomatie.
So musste sich Scholz auch nicht mit der Frage befassen, was die EU getan hatte, um die wichtigste Lehre aus dem zweiten Weltkrieg kontinental Wirklichkeit werden zu lassen: Wo waren die „gut ausgerichteten“ Anstrengungen, wo blieb der „Aufbau gegenseitigen Vertrauens“ im Verhältnis zu Russland, dem Rechtsnachfolger des einstigen Systemrivalen, der Sowjetunion?
Es hat sie nicht mehr gegeben.
2006 waren die Dinge noch etwas anders. 2006 war das Jahr der Arbeiten an einer neuen Energiestrategie für die EU. Damals war das Europäische Parlament besorgt, dass nicht genügen Direktinvestitionen in die russische Energieproduktion fließen könnten. Es forderte die Kommission auf, enger mit Russland zusammenzuarbeiten.
https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-6-2006-0603_EN.html
Der Europäische Rat beauftragte die Kommission, dem Kapitel Energie bei den Verhandlungen um das Nachfolgeabkommen des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens von 1998 mit Russland große Aufmerksamkeit zu schenken (Ziffer 24)
https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-10633-2006-REV-1/de/pdf, sowie März 2007, als Teil des Aktionsplanes Energie; siehe Anhang 1
https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-7224-2007-REV-1/de/pdf
(Anm.: Dieses neue Abkommen kam nie zustande.)
2007 beschäftigte sich der Europäische Rat nicht mit Russland.
Nach dem Krieg in Georgien im Jahr 2008 änderte sich das. Auf einer außerordentlichen Tagung im September beklagte die EU den Gewaltausbruch in Georgien und eine „unverhältnismäßige Reaktion“ Russlands. Die Anerkennung der Unabhängigkeit der abtrünnigen Gebiete durch Russland wurde verurteilt. (vgl. Ziffer 1 und 2)
https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-12594-2008-INIT/de/pdf
Heute wird von vielen von einer „russischen Aggression“ gegen Georgien gesprochen, was eine komplette Umdeutung der damaligen Entwicklungen darstellt, und jeder, der das heute so behauptet, lügt entweder bewusst oder plappert nur Propaganda nach.
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates formulierte seinerzeit eine ziemlich prägnante Darstellung der Geschehnisse und verwies auch darauf, dass 2008 eine lange Vorgeschichte fehlender Konfliktbewältigungsanstrengungen hatte.
https://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-en.asp?fileid=17681
Aber zurück zur EU in diesen Jahren.
Im Herbst 2008 fand ein Gipfeltreffen zwischen dem russische Präsidenten Medwedjew und dem damaligen Ratsvorsitzenden Sarkozy statt. Medwedjew schlug damals vor, ein System kollektiver Sicherheit zu schaffen. Sarkozy griff das auf: Die Arbeiten in der OSZE sollten 2009 beginnen. Sarkozy sprach ebenfalls von einem gemeinsamen Wirtschaftsraum, in dem die Verflechtungen so tief sein würden, dass alle Formen der Konfrontationen ausgeschlossen wären.
Das führte zu einem freimütigen Kommentar von Radio Free Europe, der den lauernden geopolitischen Konflikt auf den Punkt brachte:
“It is likely that closer U.S. allies in the EU will quietly block aspects of the new Medvedev-Sarkozy plan that could undermine NATO or Washington's presence in Europe.”
Übersetzung
Es ist wahrscheinlich, dass engere Alliierte der USA in der EU geräuschlos die Aspekte des neuen Medwedjew-Sarkozy-Plans blockieren werden, die die Präsenz der NATO oder von Washington in Europa unterminieren könnten.“
https://www.rferl.org/a/EURussia_Summit_Hints_At_Geopolitical_Rapprochement/1349273.html
Tatsächlich hat sich keiner der folgenden EU-Gipfel mit den Vorschlägen von Nizza auch nur befasst.
2010 gab es ein weiteres Gipfeltreffen mit Russland, und die EU-Staats- und Regierungschefs verständigten sich im Vorfeld im Oktober auf gemeinsame Botschaften. Eine spätere politische Bewertung dieses Treffen sucht man vergeblich. Es gab auch ein Treffen mit der Ukraine. Auch das wurde nicht bewertet.
Im Jahr 2011 gab es keine politische Aussage der EU zu Russland. Ganz allgemein sprach der Europäische Rat die Verstärkung der Handelsbeziehungen zu Nachbarregionen an und betonte die Notwendigkeit einer sicheren Energieversorgung.
Im Jahr 2012 reagierte der Gipfel im Oktober auf die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU. Die Staats- und Regierungschefs bezeichneten es als ihre „persönliche Verantwortung“, dafür „Sorge zu tragen, dass Europa ein Kontinent des Fortschritts und des Wohlstands bleibt“.
https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-156-2012-INIT/de/pdf
Auch im Jahr 2013 äußerten sich die EU-Staats- und Regierungschefs zu allem Möglichen, nur nicht zu Russland. Wenn die Aufmerksamkeit auf den Osten Europas gerichtet wurde, dann allenfalls auf die Östliche Partnerschaft. So benahm sich die EU in den Jahren vor dem Umsturz in der Ukraine aller Möglichkeiten, im Dialog mit Russland auf den Zustand des Kontinents Einfluss zu nehmen.
Nach 2014 wurde es nur schlimmer. Nun wurde der Nicht-Dialog durch mehr oder minder verdeckte Gegnerschaft abgelöst.
Und die „Zeitenwende“? Was nach dem Zweiten Weltkrieg als europäisches Einigungswerk begann, war ein Akt großer politischer Weitsicht, ein Glücksfall für ihre Beteiligten, und gerade auch für Westdeutschland. Aber die europäische Integration war gleichzeitig auch ein Kind des Kalten Krieges und der europäischen Teilung. Niemand sollte diese Zeit mit europäischem Frieden verwechseln.
Tatsächlich war Europa immer der verwundbarste Teil in einem militärisch ausgetragenen Systemkonflikt. Der inzwischen der Vergangenheit angehörende Vertrag über das Verbot von Mittelstreckenraketen (INF) nahm von Europa eine große Bürde. Dass die EU nicht in der Lage war, diesen Vertrag zu retten, war in der jüngeren Zeit einer der sichtbarsten Belege dafür, dass sie keine eigenständige Sicherheitspolitik betreiben kann.
In den 90er Jahren zeigten die Kriege im Balkan, wie verletzlich die europäische Sicherheit ist, und der NATO-Einsatz im Kosovo, dass sich die NATO nicht ums Völkerrecht scherte.
2008 wähnte Georgien sich stark genug, das Feuer zu eröffnen und wurde bitter niedergeschlagen. Die Wurzeln dieses Konflikts reichen in die Sowjetunion, so wie auch die Wurzeln des aktuellen Krieges. 2014 annektierte Russland die Krim, Kiew trug den Krieg in den Donbass.
2022 stehen wir vor einem Scherbenhaufen der Diplomatie: Russland griff die Ukraine an, und die allermeisten westlichen Staaten sind nun wild entschlossen, dafür zu sorgen, dass Russland nicht militärisch gewinnt.
Italien sieht das anders und hat einen Friedensplan vorgelegt, der leider einen ganz entscheidenden Makel hat: Berlin und Paris sind nicht im Boot. Washington will die militärische Entscheidung, den „Siegfrieden, keinen „Verhandlungsfrieden“.
Es ist die Zeit des Säbelrasselns und der markigen Worte, die verhindern, dass der Blick in die Vergangenheit schweift, und falls doch, wird die Beteiligung am heutigen Desaster uminterpretiert. Der deutsche Falke will wieder fliegen. Dass das ausgerechnet in einer rot-grün-liberalen Koalition durchbricht, ist fast ein Treppenwitz der Geschichte. Dass dabei die deutsche Wirtschaft schwer verwundet wird, kommt erschwerend hinzu.
Weder Deutschland noch die EU haben in den Jahren nach 2006 Politik gemacht, die „russlandfreundlich“ gewesen wäre. Es gab andere Prioritäten. Die EU war mit sich beschäftigt. Falls sie den Blick auf die Welt richtete, dann auf die Nachbarschaft (ohne Russland), auf Afrika und auf die großen Konflikte, die sie nicht beeinflussen konnte bzw. kann (Afghanistan, Syrien, Libyen). Vor diesem Hintergrund erscheint Selbstkasteiung à la Steinmeier bizarr.
Das Verhältnis zu Russland war der EU ein zu heikles und strittiges Pflaster, um auch nur irgendetwas zu beschließen, das einen eigenen kontinentalen Gestaltungswillen offenbart hätte.
Solange das so bleibt, beraubt sich die EU der Chance, im Konzert der Großen eine Stimme unter Gleichen zu sein. Sie ist eine ökonomische Macht und ein politischer Zwerg, dem es schon genügt, wenn er nicht allzu offen diskriminiert wird, so dass ihm gar nicht mehr aufgeht, was er sein könnte, wenn er Partnerschaft beanspruchen würde, statt scheinbar wohlwollender Streicheleinheiten für den Vasallen.
Aber so marschiert es sich leichter, stramm nach vorn, nur dass längst nicht mehr sicher ist, ob vorne vorn ist, also Zukunft, oder nichts mehr.
Wer das allerdings anspricht, fällt in die Kategorie „Unterwerfungspazifismus“ oder ähnlicher Wortschöpfungen. Denn in dieser Hinsicht scheint die deutsche und europäische Phantasie schier unerschöpflich, so als ließe sich vergessen machen, dass Frieden und Welt synonym sind im Atomzeitalter, jedenfalls dann, wenn Nuklearmächte aufeinander losgehen. Das ist gerade der Fall.
Und es ist nur der Anfang.
Präsident Biden hat nun in Tokio erklärt, was ihn umtreibt im Ukraine-Russland-Konflikt. Es geht um die Abschreckung von China. Und ja, anders als im Fall der Ukraine würden die USA militärisch intervenieren, sollte sich China an Taiwan vergreifen.
Mit der Verteidigung von Werten oder Demokratie in der Ukraine hat er sich gar nicht mehr aufgehalten. Und so mal wieder aus Versehen die Wahrheit gesagt.
Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie! Fakten sind die Voraussetzung...‼️
Der Satz heißt in Gänze und ist die Losung der Pessimisten: Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt. Genauso wie der Glaube an ein Ende der menschlichen Gier.
In Verbundenheit!