Immer wieder wird die Frage erörtert, ob Russland eine Alternative zum Krieg gegen die Ukraine gehabt hätte. Auf diesem Blog unter anderem von „Columba“.
Dirk Pohlmann etwa meinte, Russland wäre in einer catch 22-Situation gewesen: Zieht es nicht in den Krieg, erscheint es als schwach. Zieht es in den Krieg, wird es verdammungswürdig.
Andere meinen, Russland wäre von den Ereignissen überwältigt worden und habe überstürzt gehandelt.
Wieder andere glauben, die USA hätten Russland gezielt in den Krieg gelockt, es wäre in eine westliche Falle getappt.
Russland machte das Recht auf Selbstverteidigung geltend, nennt das Ganze eine „spezielle militärische Operation“, aber selbst der russische Außenminister konzedierte im Interview mit der BBC, dass es sich um „Krieg“ handelt.
Keine der oben genannten Erklärungen, warum sich Russland für den Krieg entschied, halte ich für adäquat.
Russland ist nicht das unschuldige Opfer westlicher Umtriebe, die es auf Regime change und russische Unterwerfung abgesehen haben und nunmehr Russland auf ewig klein machen wollen.
Es war zudem seit 2021 klar, dass die NATO nicht für die Ukraine kämpfen würde. Sie würde die Ukraine für sich kämpfen lassen.
Daher ist die Lage meines Erachtens sehr viel gefährlicher. Russland weiß genau, was es tut, und es hat lange Vorsorge getroffen.
Die Krim
Bereits in der Krim-Frage demonstrierte Russland, dass es keinen Spaß versteht, wenn es um grundlegende sicherheitspolitische Interessen geht. Die Krim wurde nicht (wieder) Russland angegliedert, weil die dortigen Bewohner Russland-affin sind (das ist der Donbass auch), sondern weil sie von überragender strategischer Bedeutung für die Kontrolle des Schwarzen Meeres ist. Das wusste schon Katharina die Große und ließ sie prompt erobern.
Deshalb gab es dort eine russische Marinebasis, die vertraglich zwischen der Ukraine und Russland geregelt war. Die antirussische Opposition in der Ukraine vor 2014, die nach dem Umsturz die Macht übernahm, wollte diesen Vertrag erklärtermaßen kündigen. Nichts Russisches sollte in der „neuen Ukraine“ zu Hause sein, schon gar nicht eine Militärbasis, die Russland nützte.
Wie die Ereignisse zeigten, war Russland nicht gewillt, die Krim den neuen Machthabern in Kiew zu überlassen.
Dabei kam es der russischen Führung sehr gelegen, dass die Mehrheit der Krimbewohner sich in der neuen Ukraine des Jahres 2014 nicht länger zu Hause fühlte. Das Referendum wurde nach dem Vorbild der Kosovo-Unabhängigkeitserklärung organisiert (die Russland immer abgelehnt hatte)
Anm.: in der ersten Text-Version wurde fälschlicherweise “Referendum” geschrieben. Der Inhalt änderte sich dadurch nicht.
Nach der Verfassung der Ukraine war die Unabhängigkeitserklärung illegal. Es war der zweite Verfassungsbruch in der Ukraine Anfang 2014. Der erste führte zum Sturz des gewählten Präsidenten.
Jeder kannte damals die wahren Gründe für das russische Handeln.
So ging die Krim nicht als strategischer Gewinn an den Westen, der die neue Ukraine unter seine Fittiche nahm (sprich kontrollierte; die USA hat mit Bravour der EU den Rang abgelaufen).
Zur Vergeltung für die Krim sollte der Bär mit der Sanktionskeule erschlagen werden. Das ging schief.
Die Minsker Abkommen schafften eine Atempause – sie hätten nicht die Krim „heimgeholt“, aber den Donbass befriedet. Dass das Potential des 2. Minsk-Abkommens nicht verwirklicht wurde, geht eindeutig auf das Konto der Ukraine und des Westens.
Nun, mit dem Krieg gegen die Ukraine, richtet sich der Bär auf. Seine volle Größe haben wir noch gar nicht gesehen.
Über dem Ukraine-Konflikt sollte niemand vergessen, dass Russland inzwischen auch klarmachte, unter welchen Bedingungen es mit der NATO an der eigenen Türschwelle leben kann: Nur ohne stationierte amerikanische Raketensysteme.
Meines Erachtens begeht jeder zudem einen schweren Fehler, wenn er nur auf die Höhe des russischen Militärbudgets schaut und die russische Wirtschaft kleinredet. Sapin hat darauf aufmerksam gemacht, dass in Kaufkraftstandards die russische Wirtschaft der deutschen ebenbürtig wäre. Zudem sind russische Lösungen nicht mit denen im Westen vergleichbar. Sie sind viel kosteneffizienter, das Design ist oft unterirdisch, aber auch komplexeste Systeme funktionieren nahezu einwandfrei. Jeder möge sich ein Foto einer Sojus- und einer Apollokapsel ansehen, in Washington stehen sie Museum nebeneinander, um zu verstehen, was ich meine. Ich könnte weitere Beispiele nennen.
Inzwischen ist sicher, dass sich die Ukraine (mit westlicher Unterstützung) seit 2014 auf einen Krieg vorbereitete, den sie für den Westen gegen Russland führen sollte. Genügend US-Politiker haben das mit schöner Regelmäßigkeit von der Kanzel getönt. 2021 fasste die Ukraine den Beschluss, die Okkupation der Krim zu beenden und sie zu reintegrieren.
Neue russische Waffen (1.März 2018)
Aber Russland bereitete sich ebenfalls vor. Meiner Meinung nach spätestens seit 2002, als der Traum einer russischen NATO-Mitgliedschaft und der ABM-Vertrag platzten.
Am 1. März 2018 präsentierte Putin Russland und der Welt neue russische Waffen. Was er offenlegte, waren keine konventionellen Waffen, die in einem Landkrieg den entscheidenden Unterschied machen würden.
Er signalisierte damals den USA, dass Russland militärisch in der Lage wäre, die US-Verteidigungslinien zu unterlaufen (die US-Raketenabwehr ist für anfliegende Waffen über die Arktis aufgestellt, die neuen russischen Waffensysteme können über die Antarktis einfliegen).
Das war eine klassische Drohgebärde, verbunden mit einem Gesprächsangebot an den Westen. Beides wurde -jedenfalls offiziell - ignoriert.
Putin hat seither nie eine Gelegenheit ausgelassen, alle daran zu erinnern, was Russland auf dem Gebiet der Hyperschallwaffen geleistet hat: 3 Mach, njet njet, das sind die amerikanischen Waffen, unsere haben 20….
Ich nehme an, dass diese neue strategische Lage Konsequenzen hatte. START wurde verlängert, zwischen den USA und Russland die Übereinkunft erneuert, einen Atomkrieg nicht führen zu wollen.
Von Militärs (außer dem deutschen im Zweiten Weltkrieg und einem gewissen General a.D. Breedlove, der jüngst über einen Angriff auf die Brücke von Kertsch phantasierte) kann man viel erwarten, aber nicht, dass sie kriegslüstern sind, wenn die eigene Niederlage oder schwerste Verluste quasi gesetzt sind.
Das Pentagon war in den vergangenen Monaten nicht der Treiber der Ereignisse, sondern baute eine Kommunikationslinie zum russischen Generalstab auf.
Ausbau der konventionellen Fähigkeiten
Parallel zu diesen 2018 offengelegten Waffen muss Russland seit Jahren seine Fähigkeiten zur konventionellen Kriegsführung signifikant gestärkt haben. Das muss verbunden gewesen sein mit einer höchst intelligenten militärischen Planung der Kriegsführung.
Natürlich habe ich keinen Zugang zu Geheimdienstinformationen, aber nach allem, wie die russische Kriegsführung in der Ukraine seit Februar 22 im westlichen Mainstream kommentiert wird, scheint mir offensichtlich, dass westliche Geheimdienste oder viele sogenannte „Experten“ keinen blassen Schimmer davon hatten/ haben, über welche militärischen Fähigkeiten Russland real verfügt und welche militärische Strategie es verfolgt. Da wird von Moskauer Drehbüchern geschwafelt, alle wohnen in Putins Kopf und alle wissen, wie Russland die Schlacht um Kiew verlor, die Russland nie führte.
Ein realer Krieg legt die Fähigkeiten beider Seiten offen. Die Analyse des Schlachtfelds, der Züge der Gegner liefern Aufschlüsse: Was kann und was kann die jeweils andere Seite nicht, welche taktischen oder strategischen Fehler unterlaufen den Seiten?
Es ist erstaunlich, dass russische Geländegewinne in der Ukraine noch heute sogenannte Experten zur Hoffnung verleiten, die Ukraine könne sich zurückerobern, was ihr 2014 bzw. 2022 verloren ging
Zudem gibt es jede Menge Irritierendes:
Wieso bot die russische Seite „so wenig“ Militär auf? Sie waren beim Angriff in der Unterzahl. Das widerspricht offenbar allen Kriegsregeln, wonach man in der Übermacht sein sollte, wenn man angreift. Merkwürdigerweise verlief es bisher erfolgreich für die russische Seite.
Anders als die USA im Irak verfuhr, wurde durch das russische Militär keine „shock and awe“ Strategie angewandt, mit der man zunächst alles in Grund und Boden bombt.
Wieso steht Kiew noch, wenn Russland die ganze Ukraine zerstören will?
Russland konzentriert sich vorwiegend auf militärische Ziele, zermürbt die ukrainische Seite durch Einkesselungstaktik und permanenten Beschuss. Dabei nutzte Russland aus, dass große Teile der ukrainischen Armee im Februar 22 schon am Donbass standen.
Die russische Armeeführung schont ihre Soldaten (alles ist relativ) und bringt der ukrainischen Seite empfindliche Verluste bei.
Laut einem Sky-Bericht von der ukrainischen Front verwies ein ukrainischer Kämpfer auf das Verhältnis: 40 getötete russische Soldaten zu 160 toten ukrainischen Kämpfern. Seine Truppe hätte 80% der erfahrenen Kämpfer verloren.
Wie hoch die Verluste auf beiden Seiten genau sind, ist nach wie vor unklar, aber dass sie auf der ukrainischen Seite wesentlich höher sind, bestreitet aktuell niemand.
Mir scheint, aber natürlich bin ich überhaupt keine Militärexpertin, als würde Russland signalisieren: Schaut her, was wir -mit einer Hand auf dem Rücken festgebunden - können.
Nicht anders lässt sich meines Erachtens auch Putins Warnung interpretieren, dies wäre erst der Anfang. Und ich fürchte, das meint der todernst.
Nicht in dem Sinne, wie uns weisgemacht wird, dass Russland ganz Europa zu überrollen trachtet. Die Vertreter dieser Theorie können sich bis heute nicht entscheiden, ob nun Russland auf dem absteigenden Ast sitzt oder Russland das allmächtige Böse ist, dass überall erfolgreich den Westen zu unterminieren sucht. Was in ihren Köpfen keine Rolle spielt, ist der Blutzoll, den die Völker der Sowjetunion im Kampf gegen Hitler-Deutschland zahlten. Das lebt in Russland fort, so wie in Deutschland die Erinnerung fortlebt, was es sich und anderen antat, als es Faschismus und Krieg wählte.
So wie ich die Lage heute einschätze, wird sich Russland seine Sicherheit notfalls militärisch erkämpfen.
Aktuell scheint in Russland die Bereitschaft zur Diplomatie (Verhandlungen mit der Ukraine, in Wahrheit mit den USA), die bei Kriegsbeginn noch vorhanden war, gegen Null zu tendieren, nachdem der Westen keine Verhandlungen wollte.
Russland wählte den Krieg
Das bringt mich zur Eingangsfrage:
Aus meiner Sicht hat Russland den Krieg gewählt und das Mittel der internationalen Diplomatie nicht voll ausgereizt. Seit dem 16. Februar 22 war klar, dass die Ukraine den Beschuss des Donbass intensivierte. Entsprechende Meldungen der OSZE wurden als „pro-russisch“ abgetan, die westlichen Beobachter hatten die Mission verlassen.
Russland hätte die Angelegenheit sofort vor den UN-Sicherheitsrat bringen können.
Es hat das nicht mehr versucht.
Es hat keine einzige diplomatische Initiative mehr versucht.
Aus dem Protokoll eines Telefonats zwischen Putin und Macron vom 20. Februar, das in Frankreich veröffentlicht wurde, geht hervor, dass Putin nur sehr vage auf Versprechungen reagierte. Ich will nicht ausschließen, dass Putin Macron persönlich glaubte, aber Macron hatte nicht das Gewicht, für Washington zu sprechen.
Vielleicht log Putin auch gezielt, um die Kriegsüberraschung nicht kaputt zu machen, möglicherweise in der Hoffnung, die Ukraine würde kapitulieren, ohne große Verluste. Das ist natürlich Spekulation.
Keine Spekulation dagegen ist, was auf der Sitzung des Sicherheitsrates Russlands zur Anerkennung der separatistischen Gebiete des Donbass gesagt wurde.
(Zur Erinnerung: deren Anerkennung hatte Russland acht Jahre lang verweigert.)
Mit der Anerkennung wurde logisch der Krieg in Gang gesetzt, denn darauf folgte der Ruf nach Beistand und der Kriegsbeginn.)
In dieser Sitzung fielen meines Erachtens die Masken. Russland wähnte sich am Ende des diplomatischen Wegs. Es glaubte, was immer es täte, internationale Verächtlichmachung und eine sich immer weiterdrehende westliche Sanktionsspirale wären ihm gewiss. Ob Krieg oder Frieden schien keinen Unterschied mehr zu machen. Das Vertrauen in den Westen war vollständig zerbrochen.
Putin begründete öffentlich die Entscheidung zum Krieg mit der Notwendigkeit, die Existenz Russlands zu sichern.
Inwieweit innenpolitisch eine Rolle spielte, dass in der Duma die Kommunisten (zweistärkste politische Kraft in Russland) für den Anerkennung und den Schutz des Donbass eintraten, kann ich nicht genau einschätzen, aber ich vermute, einflusslos war das nicht.
Die russische Diplomatie hat sich des politischen und wirtschaftlichen Rückhalts vieler Länder versichert und sich auf die hereinbrechenden westlichen Sanktionen wirtschaftlich vorbereitet. Schließlich konnte man in jeder Entschließung vom Europäischen Parlament nachlesen, was im Köcher war. Die Diskussion um Nord Stream 2 erfolgte auch nicht in Hinterzimmern. An den russischen Reaktionen deutet gar nichts darauf hin, dass Russland „kalt erwischt“ wurde. Auch nicht vom Einfrieren eines Teils seines Vermögens.
Meines Erachtens hat eine Rolle gespielt, dass die russische Führung zur Einschätzung gelangte, dass der Westen nur eine Sprache versteht: die der Stärke. Alle westlichen Analysen zu potentiellen Gegnern und erklärten Feinden fußen auf einer grundlegenden Annahme: Kriegen die Gegner die Oberhand, verhalten sie sich wie wir.
Ich nehme an, das bestimmt auch die chinesische Position.
In Peking macht man sich keine Illusionen: Ist der Westen mit Russland „fertig“, sind sie als nächste dran. Dazu muss man nicht im Kaffeesatz lesen. Also unterstützt Peking Moskau.
Es ist möglich, dass die Sprache der Macht die einzige Sprache ist, der die Menschheit aktuell mächtig ist. Einiges in der Menschheitsgeschichte verweist darauf, dass Sieger nur gnädig waren, wenn es ihren Interessen diente.
Es ist aber genauso gut möglich, dass das nur eine Annahme ist, die uns blendet. Mit einer multipolaren Welt haben wir keine Erfahrung.
Das Zeitalter, in dem Macht nur noch zum Guten eingesetzt würde, scheint mir nicht angebrochen. Obwohl das „Zivilisiertheit“ bedeuten würde. Stanislaw Lem hat mit „Die Stimme Gottes“ einen wunderbaren Roman geschrieben, was zivilisatorischer Fortschritt wäre: der Ausschluss des Missbrauchs großer Macht.
Die UN erfüllt die Rolle der Machtbeschränkung jedenfalls bis dato nicht.
War Russland existentiell bedroht?
Potentiell auf jeden Fall.
Wer über die Ukraine „verfügt“, und das haben so viele US-Strategen immer wieder gesagt, würde die empfindlichen Weichteile Russlands treffen. Die Absichten waren klar. Ich habe keine Ahnung, wie sehr sich dadurch die Vorwarnfristen für (nukleare) Angriffe verkürzten, keine Ahnung, wie sich das geostrategisch im Schwarzen Meer dargestellt hätte (durch den Ausbau kompatibler NATO-Stützpunkte in der Ukraine), keine Ahnung, was Biolabore dabei für eine Rolle spielten, aber aus russischer Sicht kann nichts davon als „normaler“ Vorgang beim unmittelbaren Nachbarn, der unter den NATO-Schutzschirm schlüpfen möchte, angesehen werden.
Praktisch aber, und das zeigt der bisherige Kriegsverlauf in der Ukraine, übertrieb Russland die aktuelle Bedrohung durch die Ukraine.
Die ist kein Gegner für Russland, auch nicht, wenn die NATO sie mit allem Krempel ausstattet, den sie längst auf Halde schaffte. Auch nicht, wenn die NATO alle ihre Arsenale leerte: Wer soll denn den ganzen Mist bedienen, instandhalten, reparieren, der vorn und hinten nicht kompatibel ist und offenbar nur sehr schlecht für die Art und Weise der Kriegsführung taugt, wie die russische Seite sie betreibt. Mit Ausnahme vielleicht der Flugzeuge, die die Slowakei offenbar lieferte: sie wurden abgeschossen, eins nach dem anderen.
Ich frage mich ernsthaft, ob es niemanden in den so lieferwilligen NATO-Ländern gab, dem aufging, was es für die Ukrainer bedeutet, mit militärischem Patchwork umzugehen und das völlig untrainiert. Das muss ein Albtraum sein. Noch dazu, wenn die Kommunikation gestört ist, die Nachschublinien nur eingeschränkt funktionieren und die Lufthoheit definitiv verloren ging.
Kennt Russland den Westen besser als wir uns selbst?
Bedeutsam scheint mir auch der Zeitpunkt der Kriegsentscheidung von Russland.
Die Energiekrise des Westens war bereits sichtbar, die Nahrungsmittelkrise auch (seit Herbst 21).
Nach meinem Eindruck rechnete Russland damit, dass die EU den amerikanischen Vorgaben folgen und sich dabei selbst schwer verwunden würde.
Es setzte regelrecht auf Irrationalität und Hass, die immer häufiger westliche Reaktionen im Konflikt mit Russland bestimmten, darauf, dass sich im Westen eine Tendenz eingeschlichen hat, sich die Welt so zu färben, wie man sie sehen will, und nicht, wie sie ist. So würde das, was wir uns selbst zufügten, zur Waffe gegen uns, ganz ohne russisches Zutun.
In der Konsequenz würde das bedeuten, dass die russische Seite den Westen heute besser versteht, als wir uns selbst.
Russland ist international nicht isoliert, aber es hat sich ins Unrecht gesetzt
Die Mehrheit der Staaten nimmt Russland korrekterweise nicht ab, dass es im Ukraine-Krieg um Selbstverteidigung geht. Die Mehrheit der Staaten nimmt Russland jedoch ab, dass seine Sicherheitsinteressen seit Jahren verletzt wurden. Sie waren nicht am geopolitischen Spiel um die Ukraine beteiligt, und sie haben keine Ambitionen, jetzt zur Partei zu werden.
Was sind nun die eigentlichen internationalen Lektionen?
Wer militärische Mittel einsetzt, setzt sich ins völkerrechtliche Abseits und ich finde, man muss das in jedem Fall ganz deutlich machen. Sonst wird die UN-Charta zerstört.
Da aber der Westen (angeführt von den USA) sich so oft ins völkerrechtliche Abseits begab und Russlands Sicherheitsinteressen tatsächlich unterminiert wurden, ist es völlig unangemessen, Russland zum internationalen Paria zu stempeln. In diesem Bemühen steht der Westen auch allein auf weiter Flur (und merkt das langsam auch).
Zumal viele Staaten die Schwäche der USA fühlen (der greise Joe Biden ist eine nur allzu offensichtliche Zugabe, die auch keiner im Westen sehen will), den Eurozentrismus der EU ablehnen und den unaufhaltsamen Aufstieg Chinas im Kalkül haben. In solchen Zeiten macht sich niemand gern neue, mächtige Feinde.
Das nennt sich „Realpolitik“. Man richtet sich ein in dem, was ist und was kommt und hält am Friedensprinzip fest.
Aber da ist noch mehr: Die Hoffnung, dass das internationale Sicherheitssystem im Rahmen der UNO weiter gestärkt, und eine Politik der Stärke definitiv auf die Müllkippe der Geschichte verbannt wird. Einschließlich aller Nuklearwaffen, die die Welt heute in Verwundbare und „Unberührbare“ teilen. Einschließlich aller Wahnsinnsideen und -forschungen, die lebensfeindlich sind.
Ich verstehe, warum Russland das Spielfeld der Diplomatie verließ und zum Schachbrett des Krieges wechselte, das Spiel nunmehr auf „Augenhöhe“ mit den Amerikanern spielt.
Das bedeutet nicht, das ich das billige. Denn in diesem Spiel scheint es um alles zu gehen.
Ein Remis ist nicht vorgesehen.
Ist es nicht an der Zeit, das ganze Schachbrett umzukippen? Keine Dame, die den König schlägt, kein König, der schachmatt gesetzt wird, und auch keine Bauernopfer mehr.
Ich halte das für ein ganz elementares deutsches Interesse. (In Wahrheit ist es ein elementares Interesse aller).
Anderenfalls findet jede Partie irgendwann ein Ende.
Niemand weiß, wie sich dann Sieger und Besiegter verhalten: Lächeln sich beide zu, dem formidablen Gegner Tribut zollend? Oder wird einer hochmütig werden, und der andere von blinder Wut übermannt?
Wie sich die selbsternannten „Sieger“ des Kalten Krieges in den vergangenen Jahren gebärdeten und wohin das führte, wissen wir inzwischen. Sie haben die Welt nicht besser und auch nicht sicherer gemacht.
In diesem Sinn ist es tatsächlich Zeit für eine „Zeitenwende“, nur nicht so, wie die aktuelle deutsche Regierung oder die aktuelle EU-Führung sie verstehen, besser ausgedrückt wünschen. Denn Verstand scheint aktuell Mangelware.
Sehr geehrte Frau Erler, ihre Ansichten schließen nicht die Ansichten von Dirk Pohl mann und Columba aus, dass Russland letztendlich durch USA/NATO in diesen Krieg hinein gezwungen wurde. Ich denke, die russische Regierung war zumindest noch bis Ende 2021 an Verhandlungen ernsthaft interessiert und hatte auf ein Einlenken von USA/NATO gehofft. Da jedoch schon in den Jahren vorher sämtliche Vorschläge der russischen Regierung zu einem "gemeinsamen Haus Europa" von der EU sowie eine politische Zusammenarbeit von USA/NATO abgelehnt und verächtlich gemacht wurden, hat die russische Regierung die Tonart geändert und auch ihre militärischen Fähigkeiten präsentiert.
Die Modernisierung des Waffenarsenals war aus russischer Sicht wegen der Ablehnung der Sicherheitsinteressen durch den Westen nur konsequent. Schafft man es nicht, die eigenen Interessen gegenüber USA/NATO mit diplomatischen Mitteln durchzusetzen, so muss man halt im Notfall auch zu militärischen Mitteln greifen. Aus moralischer Sicht mag dies nicht gut sein, allerdings geht es Staaten immer nur um ihre Interessen. Die Moral ist letztenendes nur für das Volk da, um es auf die eigene Seite zu ziehen.
Zudem ist zu berücksichtigen, dass die NATO in den letzten Jahren immer wieder große Manöver zu Lande und zur See an den Grenzen Russlands durchgeführt hat, immer gegen Russland gerichtet. Die russische Regierung hatte also allen Grund, sich militärisch abzusichern. Und hier stellt sich auch die Frage: Wollten die westlichen Militärs tatsächlich keinen Krieg? Ich erinnere hier auch an Planspiele des US-Militärs, begrenzte Atomschläge zu führen (https://www.wsws.org/de/articles/2015/06/06/ukra-j06.html).
Die Besetzung der Krim durch Russland war tatsächlich keine Überraschung, da für das russische Militär der Hafen Sewastopol eine überragende strategische Bedeutung besitzt. Er ist der einzige ganzjährig eisfreie Hafen und ermöglicht den Zugang zum Mittelmeer. Dass die Bevölkerung der Krim die russische Armee willkommen geheißen hatte, lag auch daran, dass die ukrainische Regierung die russische Sprache verboten hatte, um so dem Ziel einer "reinen" Ukraine näher zu kommen.
Warum die russische Regierung erst jetzt ihre Armee in den Osten der Ukraine einmaschieren lässt, darüber lasst sich vorerst nur spekulieren. Waren die militärischen Fähigkeiten 2014 (dem Beginn des Beschusses von Donezk und Luhansk) noch nicht groß genug? Hoffte man trotz dem, vor allem von den USA initiierten, Regime Change in Kiew noch auf eine einvernehmliche Lösung mit dem Westen? Oder waren es die Aussagen, des ukrainischen Präsidenten Selenskij, Anfang 2022 dass die Ukraine Stationierungsgebiet von Atomraketen werden sollte, die das Fass zum Überlaufen brachte (die Vorwarnzeit würde im Ernstfall für Russland auf unter fünf Minuten sinken)?
Fakt ist außerdem, dass US-Präsident Biden Anfang Februar den 16. Februar als Tag für den Angriff Russlands auf die Ukraine angab. Dies war zufälligerweise genau der Tag, an dem die ukrainische Armee ihren Beschuss auf ostukrainische Städte und Stellungen intensivierte, in Vorbereitung auf eine Großoffensive auf die "abtrünnigen Gebiete".
Trotzdem hat Putin danach noch einem Verhandlungsangebot unter Vermittlung des französischen Präsidenten mit den USA zugestimmt. Die russische Seite war allerdings skeptisch, dort größere Fortschritte zu erzielen. Natürlich kann es auch sein, dass dies nur eine Verschleierungstaktik der russischen Regierung war. Am 24. Februar marschierten russische Truppen dann in die Ukraine ein. Dabei beschränkten sie sich auf die Zerstörung der militärischen Infrastruktur und setzten eine Zermürbungstatktik ein. Das hocheffiziente Agieren konnte die russische Armee schon im Syrienkrieg einüben. Im Gegensatz zu der shock-and-awe-Strategie schont dieses gezielte Vorgehen auch die zivile Infrastruktur, vermeidet möglichst zivile Opfer und lässt auf eine größere Akzeptanz einer russischen Besetzung durch die Zivilbevölkerung hoffen.
Seit dem 24. Februar verfolgt die russische Regierung ihre Interessen also militärisch, da sie Verhandlungen mit dem Westen als sinnlos ansieht. Die UNO hat Russland dabei als Vermittlungsoption außer acht gelassen, da sie durch ihre ständige Missachtung durch die USA momentan eine eher untergeordnete Rolle als Vermittlerin spielt. Aus russischer Sicht wäre ein Beschwerde dort nur Zeitverschwendung gewesen. Zeit, in der die ukrainische Armee mit Unterstützung des Westens im Osten der Ukraine weitere Fakten zu Lasten Russlands hätte schaffen können.
Der Westen wiederum hat in seiner Hybris die Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft unterschätzt und seinen Einfluss in der Welt überschätzt. Nur ca. 1/3 aller Staaten dieser Welt macht bei den Sanktionen gegen Russland mit. Russland hat somit noch genügend Absatzmärkte für seine Produkte, um die eigene Wirtschaft am Laufen zu halten. Vor allem die EU-Staaten sind die Verlierer, die in für sie teurer Vasallentreue sich die eigene Energieversorgung durch planlose Sanktionen gekappt haben und einem dramatischem Wirtschaftseinbruch entgegentaumeln. Mit allen negativen Folgen für die eigene Bevölkerung wie Armut, Arbeitslosigkeit usw. Zusätzlich werden durch die Sanktionen wichtige Weizen- und Düngemittellieferungen blockiert, was nicht nur Auswirkungen auf die europäische Nahrungsmittelsicherheit hat, sondern auch die Wirtschaft der afrikanischen Länder sowie die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens mit in den Abgrund reißen.
Einzig für die USA läuft es einigermaßen nach Plan: Durch den Ukrainekonflikt wird Russland militärisch gebunden und kann China nicht zur Hilfe eilen, wenn die USA dort einen Krieg vom Zaun brechen. China ist immer noch der Hauptgegner für die USA, von dem sie sich in ihrer Vormachtstellung bedroht sehen. Zusätzlich wird die EU als wirtschaftlicher Konkurrent geschwächt und Europa kann im Ernstfall als atomares Schlachtfeld bei einer Ausweitung der Kampfzone dienen.
Ein sehr interessanter tweet von dem Hohen Beauftragten J. Borrel nach dem G 20-Treffen (auf dem es nicht so lief, wie sich das einige dachten):
https://twitter.com/JosepBorrellF
"Der globale Kampf um die Narrative zum Ukraine-Krieg ist in vollem Gang. Und im Augenblick gewinnen wir nicht..."
Borrells Schlussfolgerung daraus: Mehr Anstrengungen notwendig...