Das ZDF informierte am Morgen des 7. Juli seine online-Leser, dass die deutsche Außenministerin beim G 20 Treffen mit „dem Lügner“ zusammentreffen werde. Schon in der Überschrift. Mit „dem Lügner“ ist der russische Außenminister Lawrow gemeint. Der Leser erfährt, dass Frau Baerbock ihn „eigentlich verachtet“, „weil er nicht nur sie, sondern die ganze Welt monatelang belogen hat“.
Die Mission wäre heikel, aber die Außenministerin muss den Spagat wagen, zu verachten und gleichzeitig anwesend zu sein, da es Probleme zu lösen gilt.
Gibt es nur „den“ Lügner Lawrow?
Leider nicht. Es gibt jede Menge Politiker auf dieser Welt, die mit großer Eloquenz lügen oder plötzliche Gedächtnislücken haben, wenn es ihnen in den Kram passt. Das hat die traute Runde der G7 auf Schloss Elmau nicht beeinträchtigt.
Was macht also Lawrow so speziell? Es ist der Ukraine-Krieg Russlands.
Dessen Einordnung in die Geschichte ist politisch maßlos überhöht worden.
Frau Baerbock:
„Russland bringt mit seinem brutalen Angriff nicht nur unermessliches Leid über die Ukraine. Es hat auch die Grundpfeiler von Sicherheit in Europa zertrümmert, auf die wir uns seit dem Ende des Kalten Kriegs ganz selbstverständlich verlassen haben.“
Unzweifelhaft: Jeder Krieg bedeutet unermessliches Leid, das beim ersten Menschenleben beginnt.
Deshalb sind Kriege völkerrechtlich geächtet. Deshalb muss man Russland ohne Wenn und Aber verurteilen, zum Mittel des Krieges gegriffen zu haben.
Aber dieser Krieg hat eine lange Vorgeschichte, die geflissentlich von jenen ignoriert wird, die durch Unterlassen, Wegsehen oder aktive Mittäterschaft seinen Ausbruch ermöglichten und heute alles dafür tun, dass dieser Krieg nicht schnell endet.
Denn das Völkerrecht kennt auch das Prinzip der friedlichen Streitbeilegung, des aktiven Engagements zur Lösung von Interessenkonflikten jedweder Art, um die Eskalation von Konflikten zu vermeiden.
Dass ein NATO-Russland-Interessenkonflikt durch eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine im Raum stand, war seit vielen Jahren klar. Für Russland war das eine rote Linie. Hat nur der Westen das Recht, rote Linien aufzuzeichnen und bei Überschreitung mit Krieg zu drohen?
Seit vielen Jahren war klar, dass nur die Verwirklichung des Minsker Abkommens garantiert hätte, dass der abtrünnige Donbass ukrainisch bleibt. Inzwischen haben wir es amtlich vom ehemaligen ukrainischen Präsidenten Poroschenko: Dieses Abkommen war nur dazu gedacht, der Ukraine Zeit zur militärischen Aufrüstung zu verschaffen – für den Krieg mit Russland. Die gleichberechtigte Reintegration des Donbass in ein föderalisiertes ukrainisches Staatswesen stand nicht auf dem Plan. Und außer der russischen Seite will das niemand bemerkt haben?
Aber wen wundert es eigentlich? Durch ein im März 2014 geleaktes Telefonat von Julia Timoschenko wissen wir doch längst, was die ukrainische Elite über den Donbass dachte:
Frage: „Was machen wir mit den 8 Millionen Russen in der Ukraine? Die sind jetzt Ausgestoßene“.
Antwort Timoschenko: „Können wir sie nicht einfach mit Nuklearwaffen beseitigen?“
Timoschenko hat die Echtheit des Telefonats nie bestritten. Aber die Erwähnung von Nuklearwaffen sei ein Scherz gewesen (ab Min 1:50).
Mag sein, Kiew hatte ja keine Atomwaffen, aber definitiv ein Problem mit 8 Millionen „Ausgestoßenen“, die die neuen Machthaber in Kiew nicht brauchen konnten. Schon garnicht als Wahlvolk.
Von diesen „Ausgestoßenen“ wären sie im Mai 2014 nicht gewählt worden.
Knapp 4 Wochen nach besagtem Telefonat startete Kiew im April 2014 die Anti-Terror-Operation gegen den Donbass.
Unter dem Applaus des Westens.
Was genau hat der Westen getan, um die Interessenkonflikte zwischen der NATO und Russland zu bewältigen?
Soweit ich mich erinnere, wurde Russland das Recht auf legitime Interessen abgesprochen, russische Besorgnisse lächerlich gemacht und Russland mit immer neuen Vorwürfen überzogen.
Auch als Russland am 1. März 2018 seine neu erworbenen militärischen Fähigkeiten öffentlich machte, Putin damals hoffte, nun „müsse“ der Westen mit Russland sprechen, erntete er nur Verachtung und Schweigen. 12 Tage später erhob die britische Regierung den schweren Vorwurf des Einsatzes von Nervengift durch Russland auf britischem Boden, 43 Tage später den Vorwurf eines heimlichen russischen Chemiewaffenprogramms. Der Westen aber sah keine Veranlassung, die OPCW einzuschalten, damit diese den Vorwurf überprüft.
Wie lautete die Antwort des Westens auf die russischen Vorschläge vom Dezember letzten Jahres, die russischen Sicherheitsinteressen (zweifellos in einer Maximalposition) reflektierten?
Sie wurden vom Tisch gewischt, wie lästige Fliegen. Verhandeln? Nicht mit uns.
Wie lautete die Reaktion des Westens auf die Brandrede des ukrainischen Präsidenten auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2022, der die „Befriedungspolitik“ gegenüber Russland anprangerte und sein Land zur Verteidigungslinie Europas erhob?
Es gab stehende Ovationen.
Vergessen war unter anderem, dass die Ukraine einst Teil der Koalition „der Willigen“ war, die unter US-Führung in den Irak einfielen, ein Vorgang, der zweifellos völkerrechtswidrig war und die internationale und europäische Sicherheit auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte schwächte.
Vergessen war, dass der Donbass 2014 nicht von Russland okkupiert worden war. Das startete erst 2022.
Und wer hat zuletzt, vor Kriegsausbruch, die Beschießung des Donbass intensiviert?
Bei jeder einzelnen Drehung an der Konfliktspirale in den vergangenen Jahren hieß es immer wieder: Eine Politik der Stärke, der harten Hand gegenüber Russland sei unverzichtbar. In ihrer extremsten Form wurde die Tötung von Russen erwogen, damit „die Russen“ einen „Preis“ bezahlen.
Russlands Angriff auf die Ukraine hat den Apologeten des ewigen Konflikts endgültig Oberwasser verschafft. Nun ist der Preis, den Russland bezahlen soll, nach der Krim, regelrecht inflationiert.
Jetzt geht es nicht mehr „nur“ um die Tötung von ein paar Russen, jetzt geht es um die strategische Schwächung des Landes, um dessen Ruin.
(Wenn Frau Baerbock auch nur einen Schimmer außenpolitischen Verstandes hätte, wüsste sie, dass die gezielte Schwächung einer Atommacht unwägbare Sicherheitsrisiken bietet. Wenn sie nur einen Schimmer innenpolitischen Verstandes hätte, würde sie bemerken, dass dieser Kurs Deutschland ruinieren kann.)
Was tut die deutsche Regierung, um das „unermessliche Leid“ der Ukrainer zu beenden, dass 2014 seinen Anfang nahm? Sie wurde zur Mitläuferin im Stellvertreterkrieg gegen Russland, der auf dem Buckel der Ukraine ausgefochten wird, statt für seine umgehende Beendigung einzutreten.
Stimmt es, dass Russland „die Grundpfeiler“ der Sicherheit in Europa zertrümmerte“?
2020 hieß es anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft:
„Europa bleibt auf die Nato angewiesen, denn die Nato ist und bleibt der Grundpfeiler unserer Landes- und Bündnisverteidigung. Deutschland und ganz Europa verdankt seinen Wohlstand dem Schutz des Bündnisses.“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/europa-im-dialog/eu-verteidigungspolitik-1779230
Nichts an diesen geschwollenen Sätzen entspricht der Wahrheit. Europa ist auch Russland, und Russland fühlte sich nicht von der NATO geschützt, sondern bedroht.
Man kann es gar nicht oft genug wiederholen: Sicherheit entsteht nicht, wenn eine Seite behauptet, die andere Seite sei zu dumm oder paranoid und verstehe alles nur falsch.
Sicherheit entsteht nur, wenn das Störende besprochen und ein Gleichgewicht der Interessen gesucht wird, wenn die Sicherheit des einen nicht um den Preis des anderen erkauft, sondern als geteilt verstanden wird.
Lügt Lawrow, wenn er dem Westen vorwirft, sich davon verabschiedet zu haben?
Schritt für Schritt wurden seit 1990 jede Menge „Grundpfeiler“ der internationalen und europäischen Sicherheit zertrümmert. Die Initiative dazu ging nie von Russland aus:
die Kündigung des ABM-Vertrags, die Kündigung des Vertrags über Mittelstreckenwaffen, die Kündigung des open sky-Vertrags waren einseitige Schritte der USA, die aus Bündnistreue geschluckt wurden.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine zeigte, dass auf russischer Seite jegliches Vertrauen in den Westen und in Diplomatie zerbrochen ist.
In einem jüngsten Interview mit der BBC ging Lawrow so weit, zu sagen, dass es sein Land nicht mehr kümmere, was der Westen denke. Lügen russische Politiker, wenn sie den Mund aufmachen? Wollen wir wirklich eine Ära tiefsten Misstrauens? Gibt es da gar nichts zu reparieren?
Als die USA den ABM-Vertrag 2002 kündigten, nannte das Moskau einen Fehler, erklärte aber, es fühle sich nicht bedroht.
Am 1. März 2018 stellte Putin neue Waffensysteme vor, in Reaktion auf den gekündigten ABM-Vertrag und erfolgte Raketenstationierungen in Europa.
Daraus kann man zwei Dinge lernen: Erstens, dass öffentliche Erklärungen nicht notwendigerweise die ganze Wahrheit dokumentieren und Russland – offenbar völlig unbemerkt vom Westen – sich mit modernsten militärischen Mitteln ausstattete, die die US-Abwehr umgehen können: vorsichtshalber;
Zweitens, dass historische Entscheidungen und Fehleinschätzungen lange Schatten werfen.
Der Verzicht auf eine europäische Sicherheitsarchitektur mit Russland (gemeinsames Haus Europa) durch die strategische Profilierung der NATO und ihre Erweiterungen (ohne Russland) stand am Beginn des Irrweges.
Die souveräne Gleichheit aller Staaten ist zwar ein schönes Prinzip des Völkerrechts, aber es gibt praktisch „gleichere“. Wer sich an der Spitze des Tisches wähnt, braucht sich mit den Interessen anderer Staaten nicht zu beschweren. Das ist der Grund, warum die vielen kleinen Staaten dieser Welt das Völkerrecht schätzen. Es ist ihr Schutz vor dem Appetit derer, die sich unverwundbar wähnen und die Macht des Arguments durch die Macht des Militärs ersetzen. In diesem Punkt hat nun Russland mit den USA gleichgezogen.
Verdammt wird nur Russland. Das ist schlicht heuchlerisch.
Niemand weiß heute genau, wie dieser Stellvertreterkrieg, der politisch, wirtschaftlich, militärisch (in der Ukraine) und propagandistisch geführt wird, endet.
Keine der Annahmen, die an seinem Beginn standen, hat sich bisher bewahrheitet. Russland ist nicht isoliert, es geht wirtschaftlich nicht in die Knie. Dagegen stöhnt die Bevölkerung im Westen unter sich verschärfender Inflation und Energieversorgungsproblemen, die Welt unter einer sich verschärfenden Hungerkrise. Man muss eine Rezession nicht herbeireden, sie ist da, und sie ist hausgemacht.
Die Ukraine hat wichtige Territorien verloren und, schlimmer noch, den besten Teil ihrer Armee. So viele Menschen haben das Land verlassen. Auf immer?
Von welcher Ukraine reden wir, wenn Geberkonferenzen für ihren Wiederaufbau organisiert werden?
Weiß das jemand mit Bestimmtheit?
Die russische Armee ist nicht der Haufen versoffener, verhurter Vergewaltiger, denen jedes Kriegsverbrechen recht und billig ist, mit einem unfähigen Führungskommando, das von Strategie und Taktik keine Ahnung hat.
Sie zeigt in der Ukraine ihre scharfen Zähne.
Wieviel Rest-Ukraine wird übrigbleiben, wenn das so weitergeht, wenn der Krieg nicht gestoppt wird?
Nein, das ist kein Defätismus, kein mangelndes Vertrauen in die kämpfenden Ukrainer. Sie haben nur leider einen Präsidenten, der selber jede Menge Kriegslügen erzählt und offenbar willens ist, sein Volk im Namen von was auch immer zu opfern.
Wenn die Einschätzung eines Beitrags beim britischen Militärinstitut Royal United Services Institute stimmt, dass die russischen industriellen Kriegsführungskapazitäten inzwischen die der NATO übersteigen, dann ist es höchste Zeit für die Reißleine, denn dann kann nichts mehr besser werden. Weder heute, noch morgen, noch bis zum Winter.
https://rusi.org/explore-our-research/publications/commentary/return-industrial-warfare
Nichts wird gelöst durch das ewige Mantra: Putin ist allem schuld, nichts durch Verachtung für „den Lügner“, nichts dadurch, dass die Propagandisten offenbar inzwischen ihrer eigenen Propaganda glauben, von einem „Siegfrieden“ fabulieren, der Russland auf ewig besiegen wird, quasi ein Endsieg. Womit, mit Nuklearwaffen?
Seit vielen Jahren plädiere ich dafür, dass wir verstehen müssen, dass wir alle auf der Erde zu Hause sind, nicht nur regional und örtlich verbunden, sondern auch national und international. Dass wir begreifen müssen, dass nicht das Trennende überwiegt, sondern das, was uns alle verbindet im Menschsein.
Ich hatte die Hoffnung, dass die Bundesrepublik Deutschland mit unserem friedensorientierten Grundgesetz und die EU mit der Erfahrung, wie man tiefste Konflikte überwinden und einen Neubeginn organisieren kann, sich dem verpflichten.
Ich hatte die Hoffnung, dass die Pandemie ein Weckruf sein würde.
Trotzdem nähern wir uns rasend schnell dem gefährlichsten Punkt in der Existenz der Menschheit überhaupt: Wir drohen zu versagen, die Grundlagen unserer Zivilisation zukunftsfest zu machen.
Die Strategen der Konfrontation kennen nur den Weg in den Abgrund. Sie sind nicht die Mehrheit, auch wenn sie noch so laut schreien.
Die Mehrheit will leben, ohne Knoten im Bauch, wie man das tägliche Essen bezahlt oder das Monatsende finanziell gemeistert wird. Oder die nächste Energieabrechnung oder die Kosten für die Kinder und und und…
Diese Mehrheit verdient nichts am Krieg. Sie hat nichts von abstrakten Freiheitspostulaten (die deutsche Freiheit wird auch am Hindukusch verteidigt, neuerdings in der Ukraine). Sie hat nicht die Einkünfte, um Rezession und Inflation ignorieren zu können. Diese Mehrheit will und braucht Frieden. Nicht abstrakt, sondern ganz konkret.
Diese Mehrheit gibt es weltweit.
Wer hätte gedacht, dass eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung diese Mehrheit in Deutschland verrät, weil sie in den Krieg zog, statt Frieden zu suchen?
Liebe Frau Erler, wenn ich mir all die Schritte des Westens, der Nato, der USA ansehe, die zu dieser Eskalation geführt haben, dann frage ich mich, was Putin hätte anders machen sollen, auch angesichts der Absicht der Ukraine, sich auch noch atomar aufzurüsten. Tatsächlich saß er zwischen Skylla und Charybdis. Er hatte alles versucht und unternommen: angeboten, vorgeschlagen, klargestellt, gedroht, nichts hat die Kriegstreiber von ihrem Ziel, Krieg gegen Russland, abgebracht und zum Verhandeln bewegt.
Da ist es doch meinem Empfinden nach eher eine Demutsgeste, immer an den Anfang eines solch wichtigen und richtigen Artikels den Satz zu setzen, Putin sei uneingeschränkt zu verurteilen.
Wenn überhaupt ist er nur eingeschränkt zu verurteilen, was nichts daran ändert, dass das Ganze eine fürchterliche Katastrophe ist, die uns jetzt schon auch hierzulande mit in den noch "nur" wirtschaftlichen und sozialen Abgrund reißt, mal ganz abgesehen davon, dass dieser sich möglicherweise zu einem Inferno ausweitende Krieg eine Umwelt- und Klimakatastrophe erster Güte ist.
Danke für Ihre immer hervorragenden Analysen, auch wenn ich manchmal mäkele.
Ein Mal eine solche Analyse in der Tagesschau oder auf ZDF heute, und man könnte vielleicht ein kleines bisschen Zuversicht schöpfen, dass nicht nur Bösartigkeit, Boshaftigkeit, Häme, Hass, diebische Freude, Betroffenheitsduselei, Zurechtbiegerei von Fakten, Lüge und vorsätzliche Täuschung die mediale Berichterstattung bestimmen. Aber darauf kann man wohl nicht mehr hoffen. Man muss dankbar sein, dass es überhaupt Stimmen der Vernunft gibt, die furchtlos die Dinge beim Namen nennen. Und deshalb ist dieser Blog von unschätzbarem Wert. Danke, liebe Petra!