„Zeitenwende“. Damit beschrieb der deutsche Bundeskanzler die Zäsur, die der russische Angriff auf die Ukraine bedeute. Was so apokalyptisch drohend artikuliert wurde, ist eine rasante Anpassung an die konfrontative Strategie der USA gegenüber Russland (und China) und in derem Gefolge der NATO. Schwupps wurden langfristig bewährte Prinzipien der deutschen Außenpolitik über Bord geworfen.
Helmut Schmidt konnte noch unwidersprochen auf dem im Völkerrecht verankerten Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten beharren – Vorbei. Helmut Kohl konnte noch das Verbot der Ausfuhr von Kriegswaffen in Spannungsgebiete aufrechterhalten – Vorbei. Gerhard Schröder konnte noch die Mitwirkung an einer amerikanischen Aggression verweigern – Vorbei. Angela Merkel konnte noch den Einstieg der NATO in den Ukrainekonflikt abbremsen – Vorbei. Die EU träumte von strategischer Autonomie und globalen Ambitionen – vorbei. Sie kann und will noch nicht einmal ihre Energiepolitik souverän gestalten.
Wir wären aber nicht in Deutschland, wenn diese radikale Wende nicht verbunden wäre mit Selbstbezichtigung und tiefster Zerknirschung darüber, wie man bisher nur so eigensüchtig, naiv und blind sein konnte, diesem schrecklichen russischen Despoten Putin zu vertrauen und sich in russische Fänge zu begeben, so als wäre die deutsche Außenpolitik in den letzten 20 Jahren von der Beziehung zu einem einzigen Mann abhängig gewesen und von Trotteln gemacht worden.
Der Bundespräsident ging den Weg der Selbstkasteiung als Erster und entwertete damit nicht nur Jahrzehnte deutscher Außenpolitik, sondern brach im Vorbeigehen seiner eigenen Partei das Rückgrat, und davon wird die SPD sich nicht erholen. Die Leitmedien, allen voran die früher als fortschrittlich liberal angesehenen Redaktionen in Hamburg und München überbieten sich in Schuldvorwürfen an die deutsche Adresse und feuern sich mit ihrem Kriegsgeschrei selber an. Tatsächlich sind auch sie nicht emanzipiert und folgen schon seit Jahren mehr oder minder jeder Interpretation, die im amerikanischen liberalen Mainstream en vogue ist. Die Verteidigung der imperialen Rolle der USA ist dort immer en vogue. Zudem wurde durch die Trump-Präsidentschaft ein neues Kapitel Russlandhetze aufgeschlagen. Jenseits und diesseits des Atlantiks verkündeten selbsternannte Verteidiger der Demokratie allen Ernstes, Trump sei vom Kreml auf den Thron gehievt worden und stehe in dessen Schuld. Das erwies sich im Laufe der Jahre als grandioses Desinformationsmanöver, wird aber bis heute gerne geglaubt und demzufolge immer wieder neu kolportiert.
Na gut, könnte man einwenden. Die russische Aggression hat die Dinge geändert, da muss man Strategie und Taktik anpassen und Vergangenem nicht nachgreinen. Aber um die Lage zu verstehen, muss man sich mit dem Vergangenen befassen. Es ist die Abwesenheit einer europäische Sicherheitsarchitektur, die für alle Staaten des Kontinents akzeptabel ist und ihre legitimen Sicherheitsbedürfnisse respektiert, die in diesem Krieg zum Ausdruck kommt. Prinzipien sind schön und gut, aber eine Sicherheitsarchitektur braucht mehr. Sie braucht Verfahren und Institutionen, den Dialog, Kontroll- und Konfliktlösungsmechanismen.
Der russischen Seite kann nicht ein Mangel an Versuchen vorgeworfen werden, eine solche Friedensordnung zu schaffen. Das haben die USA und die von ihr geführte NATO verhindert. Man muss Russland vorwerfen, dass es das Feld der Diplomatie verließ, nunmehr amerikanischen Spielregeln folgte und seine Interessenpolitik auf das Feld des Militärischen verlagerte, unter Missachtung des Völkerrechts. Das ist, gemessen an der russischen Politik der letzten Jahre, ein unerhörter Tabubruch, gemessen am amerikanischen Politikverständnis der letzten Jahrzehnte nicht mal ein Gleichziehen. Das entschuldigt die russische Aggression nicht, setzt sie nur in die Perspektive dessen, was durch die UN-Charta eigentlich verhindert werden sollte: der Missbrauch des Rechts durch den militärisch Stärkeren.
Aus russischer Sicht geht es beim Ukrainekrieg um die Verteidigung der eigenen Existenz. Dem muss man nicht zustimmen, nur dass die USA und die NATO in ihren Reaktionen auf diesen Krieg diese Sichtweise legitimierten. Waffenlieferungen und Sanktionen dienen nicht dem Erzwingen eines Waffenstillstands und eines Friedensschlusses, sie sollen Russland unterwerfen, wenn es nach der deutschen Außenministerin geht, sogar „ruinieren.
Laut dem Pentagon-Sprecher wurde die Ukraine auf diesen Krieg trainiert, seit acht Jahren, damit sie siegreich hervorgeht. Wer hat sie auf einen Friedenschluss trainiert? Wer hat den Frieden mit Russland gesucht? Wer hat die friedliche Konfliktlösung in der Ukraine hintertrieben?
Nun hat sich auch die deutsche Politik auf das va banque-Spiel eines Stellvertreterkrieges eingelassen, allen Kanzlerbeteuerungen zum Trotz, man wolle Verhandlungen und einen zügigen Weg zum Frieden.
Was in der westlichen Ukraine-Politik heute passiert, hängt mit Wirklichkeitsverweigerung zusammen. In den USA und im weiteren Sinn in der westlichen Staatenwelt wird noch immer geglaubt, die globalen Spielregeln allein bestimmen zu können. Es geht die große Angst um, dass der eine Hegemon durch einen anderen abgelöst werden könnte, der sich dann genauso oder noch schlimmer verhält, als man selber.
So wird ignoriert, dass große und kleine Nationen in Asien, Afrika und Lateinamerika westliche Vorherrschaft nicht mehr stillschweigend schlucken. Sie haben in den vergangenen Jahren erlebt, dass der Hegemon nicht wohlwollend ist, sondern heuchelt. Sie haben an Selbstbewusstsein und internationaler Statur gewonnen. Eindeutig verurteilt die Mehrheit der Staaten den Völkerrechtsbruch durch Russland. Viele haben allerdings gleichzeitig sehr viel mehr Verständnis für russische Sicherheitsinteressen, als wir uns vorzustellen bereit sind, denn dort herrscht nicht selektive Geschichtsschreibung. Eine Mehrheit hat weder Interesse am Kampf der Giganten noch am Recht des Stärkeren, und sie sind es leid, von Massenvernichtungswaffen bedroht zu werden.
Wenn der Niedergang eines Imperiums einsetzt, werden die Zeiten gefährlich. Die alte Weltordnung wankt, die neue ist nur in Konturen sichtbar. In den USA kriselt es im Inneren. Tatsächlich sind die Verhältnisse dort so polarisiert wie in ihren Außenbeziehungen. Die einen werden belobigt, die anderen angeklagt und gerichtet nach eigenem Gusto.
Nur mit dem Unterschied, dass einige Stützpfeiler ihrer globalen Dominanz zu bröckeln begonnen haben, dass sie nicht mehr unverwundbar erscheinen, und dass ihre Abhängigkeit von guten Beziehungen zu anderen Staaten eher gewachsen ist. Die Multipolarität scheint unausweichlich, denn China, Russland, aber auch Indien und andere Länder säßen lieber an einem Runden Tisch.
Es sieht so aus, als ob wir direkt in eine Zeit noch schärferer militärischer Konfrontation marschieren, damit der Tisch auf jeden Fall eckig bleibt.
Eine interessante Frage ist, warum sich die EU nicht für den Runden Tisch entscheidet, und warum in der EU vor allem Deutschland zum Salto mortale rückwärts angetreten ist. Deutschland war einer der Hauptakteure 1990, die die Vision einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur verfolgten, die in der KSZE-Erklärung von Paris niedergelegt wurde. Nur dadurch wurde die deutsche Einigung überhaupt möglich. Die EU erlebte in den Balkankriegen, wieviel Lunten in Europa lauern, die nur eines Funkens bedürfen, um zu explodieren. War es die verhängnisvolle deutsche Entscheidung, Kroatien und Slowenien im Alleingang anzuerkennen oder im Kosovokrieg mitzumachen oder der Neuerfindung der NATO nichts entgegenzusetzen, die den Neubeginn lähmte?
Wurde nicht begriffen, dass die Berufung auf die legitimen Interessen neuer Mitglieder nur vorgeschoben war, als sich die NATO immer mehr nach Osten ausdehnte und gleichzeitig Russland nur einen Platz am Katzentisch anbot? Oder war es die tief verwurzelte Feindschaft gegenüber den „Russen“, die sich trotz Ende des Kalten Krieges immer wieder erneuerte? Hätten nicht die katastrophalen Auswirkungen der US-Sanktionen nach dem Ersten Golfkrieg auf den Irak Widerspruch auslösen müssen? Hätte die EU nicht erschreckt innehalten müssen, angesichts der Lügen, die den Krieg gegen den Terror prägten und prägen, angesichts von Folter, CIA-Geheimgefängnissen und Guantanamo? Hätte die EU nicht bei der Aufkündigung des INF-Vertrags aufwachen müssen, oder angesichts der Art und Weise, wie sich die USA aus Afghanistan verabschiedeten?
Nichts davon hat dazu geführt, dass die EU ihr Schicksal in die eigenen Hände nahm und den USA freundlich, aber entschieden beschied, dass der europäische Kontinent in ihren Verantwortungsbereich fällt.
Wenn man bedenkt, mit welcher Arroganz Deutschland und die EU das Projekt eines Transatlantischen Wirtschaftsraums zerstörten, wie über amerikanische „Chlorhühnchen“ hergezogen wurde, so als servierte man in den USA der eigenen Bevölkerung pures Gift und das vergleicht mit der nahezu sprachlosen Unterwürfigkeit, mit der sich heute beispielsweise US-Energieinteressen gebeugt wird, dann stellt sich die Frage, ob Macron mit seiner Einschätzung, die NATO sei hirntot, nicht den falschen Esel gemeint hat.
Seit Russland seine sicherheitspolitischen Interessen Ende 2021 schriftlich fixierte, liegt ein Verhandlungsangebot auf dem Tisch, dass die USA negierten. Nun stellt sich die Frage, ob der Stellvertreterkrieg um die Ukraine bis zum bitteren Ende ausgetragen wird, und um welchen Preis.
Wird es danach noch eine Ukraine geben? Europa? Die Welt?
Dass diese Frage heute überhaupt wieder hochaktuell ist, müsste ausreichen, um Frieden und den Interessenausgleich zu suchen und an einer gemeinsamen Ordnung zu bauen, die ein sicheres Heim für alle Europäer ist.
Dass das heute abgelehnt wird, dass jedes Ansinnen danach niedergeschrie(b)en wird, als „Vulgärpazifismus“ und so ähnlich gebrandmarkt wird, dass Verhandlungen abgelehnt werden, zeigt, dass auch das Zeitalter der Vernunft zu Ende gegangen ist.
Es ist fatal, dass die aktuelle deutsche Regierung das alles gar nicht begreift.
Ich wünsche mir lebhafte Diskussionen auf diesem Blog, aber auch eine zivilisierte Wortwahl und bisher war das auch so. Behauptungen sollten meines Erachtens mit Quellen unterlegt werden. Seit vielen Jahren finde ich, dass das Prinzip Behauptungen = Tatsache = Verurteilung/Strafe den Rechtsstaat ad absurdum führt. Außerdem sollten wir alle nicht dabei mitmachen, was heute leider schon fast selbstverständlich scheint: auf einfache Bürger (Ihr) einzuschlagen, so als wären sie dumm.
Was aber den Irak-Krieg betrifft, lieber Herr Kulawik, so war der (sowie 6 weitere) bereits sechs Wochen nach dem 11. September beschlossen worden. Der BND hat sogar vor Curveball gewarnt
https://www.thelocal.de/20110828/37237/
(und in dem Punkt glaube ich ihm). Das eigentlich Atemberaubende an diesem Vorgang aus meiner Sicht ist, wie gerne die US-Lügen geglaubt worden sind, wie man alle einflussreichen Opponenten mundtot machte und dass offenbar zu Wenige daraus gelernt haben.
Wie immer: sehr guter Artikel. Die transatlantischen Fereihandelsabkommen sind zwar nur eine Randbemerkung in diesem Text, aber weil es dazu schon einen Kommentar-Thread gibt, möchte ich kurz drauf eingehen.
Dass das "Chlorhuhn" so stark thematisiert wurde, war der Logik von Medienkampagnen geschuldet. Zwar entfiel bei CETA/TTIP der "Kicking Away the Ladder"*) Effekt, der bei ungleichen Handelspartnern eintritt und die Entwicklung des schwächeren Partners verhindert, indem der Freihandels schawche Wirtschaftsbereiche konkurrenzunfähig macht. Aber durch die Einführung der außergerichtlichen Schiedsgerichtbarkeit zielten sie auch auf das, was von Hayek die "Entthronung der Politik" nannte. Dies zu erläutern ist aber so kompliziert, dass es sich nicht für eine Medienkampagne eignet und schon gar nicht in die 280 Zeichen eines Tweets passt (selbst ich habe dazu 5 Minuten gebraucht um das kompriniert in ein mit Beispielen belegtes "Lied" zu packen und 5 Minuten sind zu lang für ein Lied).
Da die Kampagne auch noch von einer Kampagnen-Agentur koordiniert wurde, hat man sich auf das "Chlorhühnchen" fokussiert um ein griffiges Symbol zu haben. Zumindest behauptet dieser ZAPP-Beitrag von 2016, der die Debatte aus Sicht der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" betrachtet, dass diese Strategie erfolgreich war: https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/Industrie-verliert-PR-Krieg-um-TTIP-,ttip562.html
*) "Kicking Away the Ladder" meint, dass die Industrienationen durch Freihandel den Entwicklungsländern die Leiter wegtreten, auf der sie selbst hochgeklettert sind. Dazu gibt es ein paar lesenswerte Artikel von Ha-Joon Chang mit diesem Titel.