Auf der Pressekonferenz des Außenministerrates am 20. Juni war der Hohe Beauftragte, Josep Borrell in launiger Stimmung. Nach dem Prinzip „actio gleich reactio“ erklärte er Russland zum Alleinverursacher aller Markttumulte und globalen Ernährungssorgen und verteidigte das litauische Vorgehen, ca. 50% des Gütertransits nach Kaliningrad im Einklang mit dem EU-Sanktionsregime einzuschränken. Litauen habe das nach Konsultation mit der Europäischen Kommission gemacht, und von einer Blockade könne auch keine Rede sein. Aber, da er heute in guter Laune wäre und auch vorsichtig sein wolle, so fuhr er fort, werde das jetzt alles nochmal geprüft werden, damit auch alles seine Ordnung hat.
(“But once again, we are in a positive mood, in a precautionary mode. We will double-check the legal aspects in order to verify that we are completely aligned with any kind of law.”)
Eins muss man den Machern des EU-Sanktionsregimes lassen: sie habe ein Mammutprojekt beschlossen, mit einer Fülle von Verboten, aber auch Hintertürchen (instandgesetzte Siemensturbinen für Nordstream 1 wären legal), das jeder, der sich keinen teuren Anwalt leisten kann, besser die Finger vom Russlandgeschäft lässt.
Und in der Tat, in besagter Verordnung findet sich auch ein Sätzchen zur Transitregelung nach Kaliningrad. Der Transit ist für Waren erlaubt, soweit nicht nach dieser Verordnung verboten.
Da Litauen zu „meinen“ Erweiterungsländern in der Europäischen Kommission gehörte, das mir ans Herz wuchs, je besser ich es kennenlernte, bin ich sicher, dass man in Litauen wusste, welch hochpolitische, regelrecht explosive Regelung im Sanktionspaket Nr. 6 zusammengeschustert wurde. Russland weiß das auch, und nun müssen Kommission und Rat sich vor Litauen stellen, aber gleichzeitig auf Russland zugehen.
Litauen hat mit Sicherheit den Kaliningrad-Transit in der EU nicht politisch thematisiert, denn Borell kannte erst nach dem Rat am Montag selbst ein paar Fakten. Da war das Kind aber schon in den politischen Brunnen gefallen.
Russland erfuhr die „gute Nachricht“ aus der Zeitung, berichtete die indische Nachrichtenagentur. Aus derem Bericht geht hervor, dass Litauen nun doch noch mal die Kommission fragen möchte.
Die Bereitschaft von Borrell, dass jetzt noch mal prüfen zu wollen, spricht dafür, dass ihm inzwischen aufging, was für eine Eskalation dieser Schritt im Verhältnis mit Russland darstellt.
Die politische Vereinbarung vom Herbst 2002 zwischen der EU und Russland vor der großen Erweiterung (auch um Litauen) lautete, neben dem eingeführten neuen Visa-Regime gemeinsam nach Wegen zu suchen, wie der Personenverkehr und der Gütertransit zwischen Russland und seiner Exklave so einfach wie möglich gestaltet werden können.
https://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/er/73188.pdf
An all dem war ich direkt beteiligt, auch daran, dass Litauen für seine Transitmühen zusätzliche EU-Gelder erhielt.
Die Erweiterung sollte keinen Keil zwischen das russische Mutterland und seine Exklave treiben.
Der Gütertransit von und nach Kaliningrad wurde zudem im Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Russland 1998 geregelt. Vereinbart wurden die entsprechenden GATT-Regeln, die heute im Rahmen der WTO weiterentwickelt werden. Diese Regeln sind eindeutig: Am Transit darf sich nicht vergriffen werden.
https://tfig.unece.org/contents/gatt-v.html
(Es gibt offenbar auch einschlägige Bestimmungen im Eisenbahnverkehr, aber da kenne ich mich nicht genau aus.)
Kurzum: Mit dem 6. Sanktionspaket hat die EU den Gütertransit von und nach Kaliningrad, der neben dem belorussischen Territorium durch litauisches Territorium geht) erheblich eingeschränkt, ohne das Für und Wider auch nur politisch erwogen zu haben. Das ist so atemberaubend fahrlässig, dass man nur hoffen kann, dass der Kreml das auch so beurteilt, so dass diese Kuh schleunigst wieder vom Eis geholt werden kann.
Da der Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag stattfindet, ist eine politische Erklärung dringend notwendig.
Dieser Vorfall stellt viele Fragen und keine davon ist angenehm.
Ausweislich eines Briefes des US-Präsidenten befinden sich die USA „in Kriegszeiten“ (mit Russland).
Die EU ist ebenfalls nichterklärte Kriegspartei und das Ziel ihrer Wirtschaftssanktionen ist, um die deutsche Außenministerin zu zitieren, Russland zu „ruinieren“.
War das die politische Vorgabe, mit der die Beamten in der Kommission und im Rat an den Texten strickten? War irgendjemandem in der Kommission oder in Deutschland politisch klar, was passiert, wenn Moskau vermuten müsste, man wolle eine regime change Operation in Kaliningrad starten? Hat irgendein politisch Verantwortlicher in der EU sich mal genau die Texte durchgelesen und nachgedacht?
(Von Herrn Borrell wissen wir ausweislich seiner Einlassungen aus der Pressekonferenz, dass er das nicht gemacht hatte).
Denn es ist doch eindeutig: drastisch eingeschränkte Warenzufuhr kann zu sozialen Unruhen führen usw. (Hamsterkäufe hat es schon gegeben.) Und die Tagesschau berichtete – ohne jedes Gespür für das Problem - demnächst solle das Transitverbot auch für Energieträger gelten.
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/kaliningrad-russland-kuendigt-sanktionen-an-101.html
Jenen, die Kaliningrad nur als wichtigen Militärstützpunkt ansehen, den man ruhig knebeln kann, sei empfohlen, sich an die Aussagen des damaligen NATO-Oberbefehlshabers für Europa, Breedlove, 2015 zu erinnern. Der wollte notfalls Kaliningrad „überrennen“.
https://www.cicero.de/aussenpolitik/nato-russland-kalter-krieg/60589
Es liegt im politischen Interesse der EU, sofort dafür zu sorgen, dass auch nicht der Hauch eines regime-change-Verdachts (oder der versuchten Abtrennung Kaliningrads von Russland) bleibt, um das ohnehin vergiftete Klima in den Beziehungen mit Russland nicht noch weiter zu belasten. Denn das ist eine Lunte, die einen Flächenbrand auslösen kann.
Bei dieser Gelegenheit könnten die Staats- und Regierungschefs der Kommission auch den Auftrag geben, dass ganze Sanktionspaket grundlegend zu überarbeiten, damit jeder Wirtschaftsteilnehmer genau weiß, woran er ist.
Wenn Borrell in der erwähnten Pressekonferenz von „Überreaktion“ und „Über-Compliance“ von Marktteilnehmern redete und jetzt viele Briefe schreiben will, dann doch nur, weil das Sanktionsregime der EU (und anderer) nicht nur die Märkte tief verstörte.
Das alles nur als russische Propaganda oder Desinformation hinzustellen, führt nicht weiter (weil nicht alle Staaten der Welt die Sichtweise der EU teilen), so wie es auch nicht weiterführt, alles auf Russland zu schieben. Je länger der Krieg dauert, um so schlimmer wird alles, für die Ukraine, für die Welt.
Da die EU zur Kriegsbeendigung keine Anstalten unternimmt, wundert es nicht, wenn der indische Außenminister kürzlich empfahl, die EU solle endlich der Ansicht entwachsen, dass die „Probleme Europas die der Welt seien, aber die Probleme der Welt nicht die Europas.“
Nachtrag: Mittlerweile hat sich das US-State Department hinter Litauen/ die EU gestellt und an die NATO-Beistandsgarantie erinnert; der EU-Botschafter (ein deutscher Diplomat) erklärte, Moskau solle einen kühlen Kopf bewahren und nicht eskalieren (interessant, wer hier den Spieß umdrehen will und tatsächlich desinformiert!). Moskau wiederum hat Litauen schwere Vergeltung angedroht und nimmt den Vorgang als Beweis, dass der EU nicht zu trauen ist, nicht in dem, was sie erklärt oder schriftlich zusagt. Die Lunte brennt schon...
Könnte die Krise um den Transit nach Kaliningrad genutzt werden, einen Neustart der Gespräche zwischen Teilen der Union und Russlands zu versuchen? Vielleicht auch mit der Chance zu einer Themenerweiterung? Das setzt natürlich ein materielles Interesse bei bestimmten EU-Mitgliedern wie Deutschland zur Deeskalation voraus. Schaue ich auf die Presselandschaft, kann ich das nicht glauben; betrachte ich die Interessen der Industrie, sollten diese an erster Stelle stehen. Das Schweigen Letzterer erstaunt mich immer mehr.