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Wolfgang Geuer's avatar

Wenn man die Bruchlinien und Entscheidungssituationen Merkelscher Politik genauer in Augenschein nimmt, fallen die Glaubensbekenntnisse auf, die wie aus einem Musterkoffer hervorgezogenen wurden, um möglichst große Teile des Wahlvolkes hinter sich zu versammeln. „Marktkonform“ war gut, „Transparenz“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ konnte nahezu jeder Wähler abnicken. Im Jahr 2021 – in ihrem letzten Regierungsjahr - ignorierte sie die halbleeren Gaslager, während andere europäische Länder mit staatlichen Maßnahmen gegenzusteuern versuchten. Nach dem letzten EU-Gipfel schrieb sie ihren Kollegen in Europa sogar ins Stammbuch, sie sollten für – was wohl – mehr „Transparenz und Wettbewerb“ sorgen. Ob alle genickt haben, wurde nicht berichtet. Aber die Presse war kurzfristig (wie so oft) auf ihrer Seite. Dass der Energie-Markt in der EU eigentlich gar nicht existiert, weil das teuerste Kraftwerk nach den Regeln den Preis vorgibt, wurde ausgeblendet. Und Merkel nutzte die Unwissenheit - Markt klang einfach verführerisch. Eine Lösung bot ihre Darbietung nicht, kam aber ganz gut an.

Jahre zuvor bedrohte Fukushima ihre Wiederwahl. Angesichts der sich verschiebenden Mehrheiten waren auch deutsche Kernkraftwerke plötzlich nicht mehr sicher, die (laut Merkel) eigentlich sicher waren. Aber die Wähler waren nun einmal durch den Tsunami zu den Atomenergiegegnern gespült worden, die Kernschmelze in Japan bedrohte ihre Kanzlerschaft; und sie hatte gelernt, wie man Mehrheiten fängt…

Bei Kampfsportlern ist die „Meidbewegung“ ein wichtiges Defensivmittel, um nicht getroffen zu werden. So gelang ihr verbales Wegducken im Abhörskandal mit dem empörten Satz: „Abhören unter Freunden, das geht gar nicht!“ Alle nickten, manche sicher beeindruckt, weil Frau Merkel zum ersten Mal emotional wurde; politische Konsequenzen zog sie aber nicht. Sie stand „in Treue fest“ zur atlantischen "Freundschaft". Und die meisten Bürger waren beruhigt angesichts so authentischer Regungen. Unterstützung für Edgar Snowden oder Julian Assange waren für die Stasi-Erfahrene Merkel dagegen nie ein Gebot, auch nicht nach ihrer Regierungszeit. Die westlichen Werte gehörten zwar fest zur Dekoration der Bühne, aber dabei ließ sie es auch immer bewenden. Dass Deutschland und Europa trotz dieser geheimdienstlichen Übergriffe nicht einmal befähigt wurden, ein eigenes Cloudsystem aufzubauen oder eine eigene Suchmaschine zu entwickeln, ist ein irreparabler Schaden für die Unabhängigkeit unseres Landes in der digitalen Zukunft. Mitverantwortung trägt sie auch dafür.

Gut verinnerlichter Opportunismus – wie Columba sagt - kombiniert mit Gespür für eigene Risiken sind zwar eine brauchbare Überlebensstrategie aber eben keine gute Politik; die muss auf die Zukunft gerichtet sein. Das war sie bei ihr nur in Bezug auf die eigene Person.

Sie hätte es fast geschafft, weltweit als Klimapolitikerin durchzugehen, vielleicht sogar als Friedenspolitikerin, wenn jetzt nicht ihre eigene Redseligkeit im Blick zurück einen Strich durch diese Rechnung zöge. Worte schaffen eigene Wirklichkeiten, Deutungsmuster und Konsequenzen, gerade im Ringen um friedliche Lösungen in Konflikten, in denen bereits geschossen und gestorben wird. Vermutlich spielen Vertrauen, Klarheit und Glaubwürdigkeit wohl nie eine größere Rolle. Ihre Äußerungen (zu Minsk I und II) werden nicht nur im aktuellen Krieg die Verhandlungen um einen Waffenstillstand oder um Frieden belasten. Rückblickend Friedensverhandlungen als besonders gelungene Täuschung zu bezeichnen mag spieltheoretisch durchgehen und am Computer keinen Schaden anrichten; im wahren Leben könnte der Schaden unabsehbar sein.

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Columba's avatar

Ich halte Merkel eigentlich eher für eine gnadenlose Opportunistin. Ich erinnere mich an die Gesprächsrunde mit dem weinenden syrischen Mädchen, dem sie ungerührt erzählte, dass man eben nicht jeden herein lassen könne. Es gab einen ziemlichen Shitstorm und kurz danach die 180°-Wende, auch angesichts der Bilder der Elendstrecks. Nachdem sie das Problem dann den Bürgern aufgehalst hatte und die Flüchtlinge vor allem in armen Vierteln untergebracht wurden, -die reichen Bürger Hamburgs z.B. machten sich in der Form Sorgen um die Heimatlosen, als sie meinten, die würden sich in ihrem Viertel sicher nicht wohl fühlen, weil es da kein ALDI gäbe-, kam wieder die Kehrtwende, jetzt dürfen die EU-Grenzländer das Problem ausbaden und unsere vielgerühmten Werte werden an den Außengrenzen heldenhaft verteidigt gegen Menschen die auffällig dunklere Haut und schwarze Haare haben.

Ähnlich lief es bei der Atomkraft, erst aus dem Ausstieg ausgestiegen, dann nach Fukushima plötzlich der Ausstieg aus dem Wiedereinstieg oder auch umgekehrt.

Und jetzt, nachdem unsere grandiosen Medien am liebsten die Entspannungspolitik Brandts als fatalen Irrtum darstellen und bald sicher schon als perfide russische oder Putin'sche Strategie entlarven werden, muss Merkel doch klarstellen, dass sie nie diesem Teufel in Menschengestalt auf den Leim gegangen ist und in strategischer Scharfsicht diesen Krieg und die, aber sowas von imperialistischen Absichten Putins voraussah und die Ukraine entsprechend vorbereitete bzw. sich vorbereiten ließ.

Schließlich gab es vor und zur Zeit des Minsk-Abkommens große Empörung über die einseitige Berichterstattung, da musste man noch den Verhandlungen den Vorzug geben, nachdem die Bürger nun seit fast 20 Jahren weich gekocht wurden mit dieser Propaganda, war die Zeit reif für den Krieg und damit musste man halt rückwirkend die alte Politik zum fatalen Irrtum oder zur intelligenten Strategie erklären, damit die Unterwerfung durch den Hegemon nicht allzu offensichtlich wird.

Und dass der Westen lügt, "wenn er die Hand reicht", ist ja eigentlich nichts wirklich Neues. Das mussten schon viele erfahren und dass er besonders in der Gestalt des Hegemons lügt, wenn er Kriege anzettelt um "seine" Ressourcen zu sichern, haben auch schon viele Länder erfahren müssen. Wer glaubt dem Westen eigentlich überhaupt noch?

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