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Liebe Petra Erler, vielen Dank für Ihren nachdenkenswerten Beitrag. Er berührt u.a. einen Aspekt, der merkwürdigerweise selbst bei differenzierten Betrachtungen kaum zur Sprache kommt. Ich meine den Einwand von André Karutz bezüglich des Narrativs der völkerrechtswidrigen Aggression durch Russland. Abgesehen von den üblichen Russlandfressern kommen selbst Politiker wie Sarah Wagenknecht nicht ohne den üblichen Disclaimer aus, die Aggression Russland sei selbstverständlich zu verurteilen, da es sich um einen offenen Bruch des Völkerrechts handelt. Das ist zweifellos richtig und bringt folglich Verfechter und Anhänger einer Politik der Diplomatie und des Interessenausgleichs in eine argumentative Zwickmühle. Wer die völkerrechtswidrigen Kriege des US-Imperiums kritisiert, kann selbstverständlich über den Krieg Russlands nicht schweigen. So weit, so schlecht. Dennoch driften hier offensichtlich Völkerrecht und „Realpolitik“ in einer Weise auseinander, die nicht angemessen mit herkömmlichen Narrativen zu bewerten/erklären ist. Selbst wenn man den diversen US-Regierungen keine direkten völkerrechtsrelevanten Brüche bei der Nato-Osterweiterung unterstellten würde (was ein Widerspruch in sich ist), so bleibt doch die Frage, auf welche Weise Russland seinen nationalen Sicherheitsinteressen völkerrechtskonform hätte Geltung verschaffen können? Selbst Jeffrey Sachs unterliegt m.E. einem Irrtum, wenn er glaubt, Putin hätte das diplomatische Potenzial zur Konfliktlösung nicht ausgeschöpft. Salopp ausgedrückt, hat Putin buchstäblich auf Knien und bis zum letzten Moment um Verständnis für russische Belange gebettelt. Sie selbst, liebe Petra Erler, haben in Ihren diversen Beiträgen quasi minutiös dargelegt, wie US-Regierungen sämtliche relevanten Abrüstungsverträge mit Russland resp. der UdSSR gecancelt haben. Am Ende standen - so meine ich - nicht nur der russische Präsident, sondern vor allem die russischen Militärs vor der entscheidenden Frage: Wie lässt sich bei einer absehbaren atomaren Aufrüstung der Ukraine (letztlich durch die USA) die nationale Sicherheit Russlands garantieren, inklusive eines für einen potenziellen Aggressor vernichtenden Zweitschlags. Kein ranghöchster Militär welcher russischen Regierung auch immer hätte die Tatsache, dass US-Raketen von ukrainischem Territorium aus Moskau in fünf bis zehn Minuten erreichen können, mit selbstberuhigendem Abwinken quittiert, eine atomare Aufrüstung der Ukraine wäre völkerrechtskonform und deshalb zähneknirschend aber tatenlos hinzunehmen. Die Dimension des Konflikts stellte sich für Russland irgendwann wie folgt dar: Entweder die potenzielle Bedrohung wird jetzt unter Bruch des Völkerrechts und Inhaftnahme einer schuldlosen Bevölkerung ausgeschaltet oder Russland nimmt die etappenweise Selbstauflösung als global Player in Kauf - bis hin zur staatlichen Desintegration. Genau das aber ist das offen bekundete Ziel US-amerikanischer Politik.

Es ist ziemlich widerwärtig, in diesen Dimensionen zu denken, aber in diesem Punkt sind den US-Regierungen zynische Konsequenz und Erfolg zu attestieren, denn sie haben Putin vor die Entscheidung zwischen einer sehr, sehr schlechten Lösung (sofort) und einer noch viel schlechteren Lösung, nämlich die militärische Erpressbarkeit (in Zukunft), gestellt. Herfried Münkler, dessen Reputation durchaus anzuzweifeln ist, hat dennoch seinerzeit in einer bemerkenswerten Analyse über das Wirken von Supermächten nachvollziehbar dargelegt, dass diese - hielten sie sich an das Völkerrecht - aufhören würden, Supermächte zu sein. Das wäre für uns „einfachen Bürger“ zwar sehr schön, aber es ist natürlich völlig unrealistisch. Gorbatschow ist über diesen Schatten gesprungen und hat im Interesse des Friedens den Einflussbereich der Sowjetunion (an den Westen) preisgegeben. Das Ergebnis und aus russischer Sicht verheerende Ergebnis ist allerdings bekannt: Es war/ist die Nato-Osterweiterung bis unmittelbar an die Grenzen Russlands.

Selbstverständlich müssen auch in der Politik moralisch-ethische Grundsätze gelten. Dennoch sollten bei der politischen Bewertung von Konflikten auch die jeweiligen Rahmenbedingungen beachtet werden. Der prinzipielle Unterschied zwischen den Völkerrechtsbrüchen der USA und jetzt Russlands besteht darin, dass die USA in keinem ihrer Kriege die eigene unmittelbare Existenz verteidigen mussten. Weder in Vietnam, noch im Irak, in Libyen oder Syrien bestand eine existenzielle Bedrohung Washingtons. Wie anders als eine existenzielle Bedrohung soll umgekehrt Russland die von Washington expressis verbis formulierten Ziele interpretieren? Hier eine unvollständige Auswahl der offen formulierten Absichten: Russland ruinieren, als Konkurrent ausschalten, Russland „dekolonialisieren“ (sprich auflösen), die Regierung stürzen/Regimechange, Putin umbringen etc…

Ja, wir sollten den völkerrechtswidrigen Charakter des russischen Krieges thematisieren. Glaubhaft kann diese Kritik jedoch nur sein, wenn in der Diskussion immer wieder die maßgebliche Verantwortung des Westens für diese Entwicklung herausgestellt wird. Wer den Krieg beklagt, ohne dessen Genesis zu erörtern, will diesen Krieg.

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May 30, 2023Liked by Petra Erler

Eine Film-Empfehlung: Ein russisch-sowjetischer Film 'Briefe eines Toten'

https://vimeo.com/114904503

Aus den 80er Jahren, als man noch wusste, dass die Lebenden die Toten beneiden werden.

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Liebe Frau Erler,

Ihr Artikel zeigt einen Menschen, der sehr offen nach Antworten auf die darin aufgeworfenen Fragen sucht. Dafür bin ich sehr dankbar in dieser Zeit angebrochener und immer weiter um sich greifender intellektueller Armut und Finsternis.

Ihr Artikel zeigt in die Richtung, in die die verantwortlichen Politker des Westens blicken müssten, wenn sie denn gewillt wären, die Welt vor dem Schlimmsten zu bewahren und für alle beteiligten Seiten einen gangbaren Ausweg zu suchen.

Dazu sollten diese Politiker jedoch unbedingt Ray MacGovern, Mearsheimer oder Douglas Macgregor konsultieren zu der Frage, welche ANDEREN Optionen Russland gehabt hatte als den militärischen Weg zu gehen.

"Nicht wer zuerst die Waffen ergreift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt."

Ich weiß, ich habe dieses Machiavelli zugesprochene Zitat schon in diesem Zusammenhang angeführt.

Jedes Kind versteht, was er meint. Warum nicht die westlichen Politiker?

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Liebe Frau Erler. Es bekümmert mich mehr und mehr, dass alle Logik in diesem unseligen Krieg fallen gelassen wurde. Und noch mehr bekümmert mich die Stellungnahmen der deutschen Regierung und Medienlandschaft dazu. Seit Beginn des Ukraine Konfliktes sehe ich staunend und und nun schon hoffnungslos dieser Entwicklung zu. Mit der Möglichkeit, andere Sichtweisen und Meinungen zu lesen oder zu hören, aber auch mit dem eigenen gesunden Menschenverstand, sieht man die Lage ganz und gar anders. Seit 2014 war diese Entwicklung irgendwie vorgezeichnet. Beleidigungen, Schmähungen und offene Feindseligkeit aus allen Kanälen gegen Russland. Und so viele Menschen, ob Freunde oder Familie, die den täglich wiederholten (Falsch-)Nachrichten folgen. Mir fehlt bei Weitem Ihr Überblick, aber ich frage mich, wie Sie selbst die Gegensätze zwischen objektiven Erkenntnissen und der offiziellen Entwicklung ertragen können. Mich macht es zunehmend depressiv. Der allgemeine Widerstand gegen das ganze Lügengebäude ist so klein, das Wort Frieden geächtet. Vielen Dank für Ihre großartig recherchierten Artikel und Ihre unbeugsame Haltung.

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Wieder mal ein sehr lesenswerter Artikel.

Ich möchte zu der ganzen Problematik noch eine weitere Perspektive hinzufügen, die des ökonomischen und moralischen Verfalls des westlichen Systems. Dient nicht, wie so oft, der äußere Feind der Ablenkung von den eigenen Problemen (und Vorhaben)?

Um nicht einen eigenen Artikel daraus zu machen, werfe ich stichpunktartige Thesen in den Raum.

Nach der Globalisierungsexpansion fehlen dem Kapital inzwischen Möglichkeiten, sich weiter auszudehnen. Ständiges Wachstum ist jedoch Grundvoraussetzung für den Systemerhalt. Gleichzeitg erweist sich das chinesische System als effizienter als das amerikanische. Konsequenz: Um das amerikanische Imperium zu retten, muß der Einflußbereich gewahrt werden, deswegen wird aggressiv eine Zweiteilung der Welt vorangetrieben. Während ständig die bad guys in In- und Ausland (Putin, China, AfD/Reichsbürger) fokussiert werden, wandelt sich die angeblich so offene Gesellschaft selbst in ein autoritäres System, das seine Bürger vollständig überwacht, steuert, drangsaliert und ihnen in ungeahntem Ausmaß fast alle Dinge des täglichen Lebens vorschreibt (WHO/EU). Der sich schon abzeichnende wirtschaftliche Niedergang wird einige wenige der üblichen Gewinner hervorbringen (Gates und Co.), die dann nach Gutdünken ihre 'Ressourcen erweitern und ihre Macht ausüben.

Deren größte Angst besteht in unkontrollierbaren sozialen Aufständen, die einzige mögliche Gefährdung ihrer Macht. Diese werden nur durch zunehmend restriktive Gesetze und Rechtsprechung, unsere völlige Digitalisierung, Konsum- und Mobilitätskontrolle und -lenkung, also letztlich völlige Abhängigkeit von der Obrigkeit beherrschbar.

Soll heißen, der "kleine Pieks" war nur der Anfang, der Krieg, so obszön das auch ist, dient nur der Ablenkung zur Errichtung einer totalitären, USAgeführten, faschistischen Internationale.

Und die olivgrüne Partei ist deren deutsche Speerspitze und willfähriger Vollstrecker.

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Das ist ein so sehr wichtiger Text. Möge er auch noch anderswo, zB. bei den Nachdenkseiten verlinkt werden. ich habe ihn auf jeden Fall geteilt.

Bei dem Bild vom Tanzbären dachte ich die ganze Zeit, dass es ja gar keine Tanzbären gibt. Dass auch der "Tanzbär" (der "Zirkusbär") eine Erfindung der menschlichen Hybris und aus Gewalt gezeugt ist, wie Du hier sehr anschaulich und schmerzhaft fast beschreibst. (Und auch ich spreche im Bild und nicht nur von den Ursidae). Kein Bär ist zum Tanzbär geboren - und auch kein Mensch zum hörigen Vasallen. Aber wir können natürlich aus allem etwas machen, auch wenn es das gar nicht braucht, es nicht angemessen ist und der Natur des Lebens entgegen steht. Früher oder später fällt einem das auf die Füße, wenn man versuchte, sich wen oder was zurechtzubiegen. Das ist im Kleinen wie im Großen so. Herzdank liebe Petra.

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Was da in Washington für Personal sich dort aufhält, da hat man das jüngste Beispiel des US-Senator Lindsey Graham. Ganz übel wird mir, wenn ich diese Gestalt dann bei seinen Sprüchen grinsen sehe. Der Faschismus ist wohl nicht tot zu kriegen, denn das ist er in Gestalt eben dieses US-Senators Lindsey Graham. Ich hoffe auf die 85 % der Menschheit gegen die grob geschätzt 1 % der Menschheit die in Ihrem Wahn nur eines kennen Unterwerfung oder Vernichtung und die 14 % der Menschheit in Geiselhaft genommen hat (Europa und einige Länder Asiens wie Australien, Neuseeland, Japan, Südkorea). Eine andere Hoffnung, die ich mir mache, um wenigstens eine weitere Hoffnung zu haben ist, dass die USA von innen heraus zerfallen. Ich las da einige Artikel von Kennern des Zustandes der USA und da kann man wirklich ein wenig hoffen. Für Europa gilt, sich endlich zu befreien von den Angelsachsen, wo die britischen Angelsachen schon 1908 Krieg führen wollten gegen das aufstrebende deutsche Kaiserreich, weil es als Konkurrent gesehen wurde und die Briten um ihren Wohlstand fürchteten.

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Hier noch ein Link zur Frage:

"Im Fall der Ukraine fordert Russland mit aggressiven (völkerrechtswidrigen) Mitteln die Berücksichtigung seiner Sicherheitsbedürfnisse ein, die der Westen negiert."

China hat dazu in den für den Ukraine-Krieg wichtigen europäischen Staaten vorgesprochen:

https://www.voltairenet.org/article219376.html

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Liebe Petra Erler,

Sie verweisen in Ihrem wirklich lesenswerten Aufsatz erneut ohne jegliche Argumentation auf die "aggressiven (völkerrechtswidrigen) Mittel", mit denen Russland für die Berücksichtigung seiner Sicherheitsinteressen einträte.

Es geht UNTER ANDEREM um Berücksichtigung von russischen Sicherheitsinteressen, in erster Linie aber um die Verteidigung der Donbass-Republiken.

Wenn Sie meinen, dass damit gegen Völkerrecht verstoßen würde, sollten Sie Ihre Meinung aber bitte auch begründen, schon um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, irgendwelchen gängigen Parolen zu folgen.

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