Wenn die Vielen vergessen werden: amerikanische Wahlen und deutsche und europäische "Verantwortung"
Was uns Armutsberichte verraten
Europäische Kommission, 4. März 2021:
„Armut und soziale Ausgrenzung sind in der EU im letzten Jahrzehnt zurückgegangen. Im Jahr 2019 waren in der EU rund 91 Millionen Menschen (davon 17,9 Millionen Kinder im Alter von 0 bis 17 Jahren) von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, fast 12 Millionen weniger als 2008 und rund 17 Millionen weniger als beim Höchststand im Jahr 2012. Das ehrgeizige Ziel der Strategie Europa 2020, nämlich eine Verringerung um 20 Millionen, wurde indes nicht erreicht.“
https://op.europa.eu/webpub/empl/european-pillar-of-social-rights/de/
Anmerkung:
Eurostat weist für 2019 andere Zahlen aus, siehe unten.
In der Mitteilung der Europäischen Kommission vom 16.12. 2010 war zu lesen:
„In 2008, more than 80 million people across the Union lived below the poverty line, that is, more than the population of our largest Member State, or 16.5 per cent of our population. Women account for well over half of them and 20 million are children. With the economic crisis, the situation has of course worsened.”
https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2010:0758:FIN:EN:PDF
Übersetzung:
„Im Jahr 2008 lebten in der gesamten Union mehr als 80 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, das heißt mehr als die Bevölkerung unseres größten Mitgliedstaats oder 16,5 Prozent unserer Bevölkerung. Weit über die Hälfte davon sind Frauen und 20 Millionen sind Kinder. Mit der wirtschaftlichen Krise hat sich die Situation selbstverständlich verschlimmert.”
Laut Eurostat betrug die Zahl 2008 damals 85 Millionen. Dort wurde der Prozentsatz mit 17 Prozent angegeben.
Hinweis:
Nach der EU-Definition gilt eine Person oder ein Haushalt als armutsgefährdet, wenn das verfügbare Nettoeinkommen (nach Sozialtransfers) unter 60% des mittleren Einkommensniveaus im jeweiligen Mitgliedstaat liegt. Bei nur 50% ist man „richtig“ arm.
Dann wurde die Definition geändert.
Nun wurden auch die Menschen eingeschlossen, die von sozialer Ausgrenzung oder von mangelnder Teilnahme am Arbeitsmarkt betroffen waren: 116 Millionen im Jahr 2008 (EU 27, ohne Kroatien).
https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/64919609-e0ad-4e76-9970-00f4490f92ef
2012: Nach der neuen Definition waren in der EU28 124.5 Million Menschen bzw. 24.8 Prozent aller Einwohner in der EU betroffen.
Im Jahr 2019 waren es laut Eurostat 92.4 Million Menschen bzw. 21.6% in der EU (27).
https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/products-eurostat-news/-/edn-20201016-2
Da allerdings hatte der Brexit stattgefunden. So „verschwanden“ etwa 15,1 Millionen Menschen aus der EU-Statistik, die nunmehr nur noch über EU27 berichtete.
Im Jahr 2023 (letzte verfügbare Statistik) waren 21.4% der EU-Einwohner bzw. 94.6 Millionen Menschen vom Armutsrisiko und von Ausgrenzung betroffen.
https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-eurostat-news/w/ddn-20241015-1
Fazit:
Man kann die Kriterien ändern, man kann den Brexit ignorieren. Man kann Eurostat kreativ lesen. Man kann erklären, was die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten jetzt alles „tun werden“.
Die Realität derjenigen, die sich hinter den Zahlen verstecken, ändert sich dadurch kaum.
Aber wen interessieren die schon? Wir reden ja nur über „loser“, also überwiegend über schlecht Ausgebildete, Frauen, über (vor allem weibliche) Alleinerziehende, über chronisch Kranke, über Alte, über die, die keinen Weg zurück in den Arbeitsmarkt finden oder ihn nie hatten. Oder die Suche aufgaben. Wir reden über Menschen, die am Leben zerbrachen, und über jene, die in der EU Zuflucht vor Krieg oder politischer Verfolgung suchten. Wir reden über alle möglichen Minderheiten, die in der EU diskriminiert sind, allen voran die Sinti und Roma. Die haben auch keine Lobby. Deren Fahne, die Himmel und Erde repräsentiert, hisst keiner.
Wir reden über Millionen Kinder in der EU, die vielleicht „das Kind Mozart“ hätten werden können (Exupéry, Reise nach Moskau), wären sie nicht in ein ärmliches Elternhaus geboren. Wir reden auch über Kinder, die das Schicksal nicht mit Mozarts Gaben beglückte.
Was wir nicht merken sollen: Wir reden immer über uns. Was wir sehen, was wir nicht sehen können oder wollen. Was wir geschehen lassen.
In den USA haben nun die „loser“ gewählt, die, für die Inflation, Einkommensschwund und illegale Zuwanderung wichtiger sind als alles andere.
Anmerkung: Illegale Zuwanderung nach US-Recht betrifft die, die sich statt an der Grenze zu melden, diese an nicht markierten Punkten überschreiten und dabei erwischt (oder auch nicht erwischt) werden.
Wie schon im Jahr 2016 entschieden sich im Jahr 2024 die „unerlösbaren Bedauernswerten“ (Hillary Clinton 2016) oder „der Abfall“ (Joe Biden 2024) für Trump.
Ob deren Hoffnungen eingelöst werden, ist völlig offen.
Laut dem wiedergewählten Senator Bernie Sanders hat die Demokratische Partei die arbeitenden Menschen in den USA vergessen, also die, die zu über 60 Prozent von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck leben. Deshalb hätten diese auch die US-Demokraten verlassen.
https://x.com/berniesanders?lang=de
Aber Bernie Sanders hat seinen Platz als glaubwürdiger Deuter der Geschichte der USA verspielt. Noch am Wahltag twitterte er, wem er seine Stimme gab, exakt der Kandidatin der Partei, die er einen Tag später fundamental kritisierte.
2016 schien er eine Stimme für die „Vielen“ zu sein. Aber der demokratische Parteiapparat kungelte mit Hillary Clinton. Damals protestierte Tulsi Gabbard gegen diese Manipulation und verspielte sich so das Wohlwollen des demokratischen Establishments. Sanders kuschte.
Heute ist Gabbard bei den US-Republikanern.
Jeremy Corbyn, der in Großbritannien „für die vielen und nicht nur für einige“ Politik machen wollte, wurde erfolgreich durch Kreise in der eigenen Partei gestoppt. 2024 schämen sie sich nicht einmal mehr, das zuzugeben. Corbyn flog zu nahe an der Sonne, war im Guardian nachzulesen. Mit Starmer ist Staat zu machen.
Was aber nach der US-Wahl schon sichtbar ist: Es gibt deutsche Politiker, die das Erbe der abgewählten US-Demokraten antreten wollen. Die halten das für eine unerschütterliche Schlussfolgerung: Jetzt muss Deutschland an die Front. Auch für die Ukraine. Gemeint ist gegen Russland.
Am 6. November 2024 veröffentlichte das Statistische Bundesamt die neusten Zahlen zu Armutsgefährdung (+ sozialer Ausgrenzung) in Deutschland. Sie steigen seit 2020. Augenblicklich sind es 21,3%.
Bei den unter 18-Jährigen ist der Wert noch höher. Der Einkommensunterschied in Deutschland ist längst dramatisch. Die obersten 10 Prozent verfügen über 56% des Vermögens.
Man kann es auch anders ausdrücken: Der ungeschriebene Zukunftsvertrag ist seit langem gebrochen: Unseren Kindern, so der Traum mindestens derer, die Kinder haben, soll es besser gehen als uns.
So ist es längst nicht mehr für alle. Mehr als einer von fünf fällt durch den Wohlstandsrost, von den großen Zukunftsrisiken für alle mal abgesehen.
Die Lage in Ostdeutschland ist gravierender als im Bundesdurchschnitt: ein höheres Armutsrisiko, sehr viel weniger Vermögen: rund 151.000 Euro zu rund 360.000 Euro pro Haushalt im Durchschnitt.
Wer das politisch nicht versteht, verspricht, nunmehr genauer „zuzuhören“, besser zu argumentieren bzw. zu informieren oder versucht, Grönemeier („Zeit, dass sich was dreht“, vor 13 Jahren, knapp 4 Millionen Aufrufe auf Youtube) zu benutzen.
Doch da gibt es noch ein anderes Lied. Es ist sehr viel zorniger.
Die deutsche Übertragung findet sich hier:
Man sollte sich nicht täuschen: Dieser Zorn ist nicht auf die USA begrenzt.
Aber da ist auch Sehnsucht, eine, über die man kaum spricht, und da ist auch die Hoffnung auf Menschsein.
Bettina Wegner hat das unter anderem in „Von Deutschland nach Deutschland“ besungen.
Weil heute der 9. November ist, verlinke ich auch dieses Lied (Aufnahme 1988).
Bettina Wegners Geburtstag ist der 4.November.
Deshalb, wenn auch nur nachträglich: Meine herzlichsten Glückwünsche und danke.
Und ja, und auch wenn es erschreckt: Ihre Lieder stimmen immer noch.
In Ihrer Definition der Armutsgefährdungsquote ist ein Fehler: Der Referenzwert ist nicht das *durchschnittliche* Einkommen, sondern der *Median* des Einkommens. Zur Erläuterung: Der Median ist das Einkommen, unter dem die Hälfte der Personen liegt. Der Median ist erheblich niedriger als der Durchschnitt, weil die Einkommensverteilung sehr ungleich ist, was den Durchschnitt in Richtung des Einkommens der Milliardäre verschiebt, den Median aber nicht. Dadurch sind die Zahlen noch dramatischer als sie es wären, wenn der Durchschnitt der Referenzwert wäre.
Liebe Leuchtürmerin, eigentlich ist es viel schlimmer: Die Armen werden nicht vergessen, das bedeutete ja nur eine gewisse Unaufmerksamkeit: Nein, sie werden bewusst ausgegrenzt und verachtet, als Müll betrachtet, der eigentlich überflüssig ist.
Die Anderen, die noch ihre Arbeitskraft verkaufen können und damit am Rattenrennen teilnehmen können, zählen auch nur als Konsumenten. Wenn ihre Anliegen als zu profitgefährdend gelten, dann werden sie ebenso ignoriert oder aber, wenn's passt, zum Teile und Herrsche gegeneinander instrumentalisiert.
Die Tatsache, dass Corbyn mit erstunkenen Antisemitismusvorwürfen nieder gemacht wurde um einem Teflon-Starmer Platz zu machen, zeigt doch genau die erklärte Absicht.
Und Gnade uns Gott, wenn Blackrock-Merz Kanzler wird, von der Traufe in die Jauche.
Etwas abseits vom Thema:
Übrigens, jetzt setzen sie gegen den Chef-Ankläger Khan die gleichen Methoden ein wie schon gegen Assange. Er wird ja ohnehin offen bedroht von den USA und Israel.
https://www.berliner-zeitung.de/news/karim-khan-istgh-leitet-untersuchung-gegen-chefanklaeger-ein-bericht-li.2270449