Über "Marsianer", Kindergärten und das Gedenken an den 9. Mai 1945
Nato, Russland und Ukraine - keine gemeinsame Geschichte?
Der ukrainische Künstler Pawlo Wyschebaba ging 2022 als Freiwilliger an die Front im Donbass. Er wurde zum Kriegsheld. Seine Erlebnisse beschrieb er in einem Buch, das auch die Erzählung „Die Marsianer“ enthält. Die Geschichte beruht auf realen Ereignissen.
Sie ist sehr berührend.
Wegen der russischen Invasion sind ukrainische Soldaten im Donbass. Die Färbung der Landschaft erinnert sie an den Mars. Sie suchen Zuflucht in der Nacht, einige in einer verlassenen Poliklinik, sein Trupp in einem verlassenen Kindergarten. Sie sahen keine andere Möglichkeit. An der Tür dieses Gebäudes fanden sie einen Zettel mit der Bitte, nicht die Tür einzutreten. Es gebe einen Schlüssel. Auch Wasser sei versteckt.
Konfrontiert mit der unbeschwerten Welt eines Kindergartens, sind die Kämpfer behutsam. Dennoch, ein Fenster ging zu Bruch. Hätten sie beim Verlassen des Gebäudes am Morgen einen Zettel schreiben können, hätten sie geschrieben, dass die „Marsianer“ zu Gast waren. Aber leider hatten sie weder die Muße noch das Werkzeug gehabt, das Fenster wieder zu reparieren.
So porträtierte Wyschebaba den Gegensatz zwischen jenen, die aufgrund der russischen Invasion nunmehr dem Kriegsgott Mars dienen und einer kindlichen, heilen Welt.
Die Geschichte von Wyschebaba ist in der Ukraine berühmt.
Sie stellt viele Fragen.
Warum gingen die Soldaten in dieses verlassene Kindergartengebäude? Die Notiz an der Tür, von der Wyschebaba berichtete, zeugte von Hoffnung, der Zerstörung zu entkommen, zurückkehren zu können in eine Zeit des Friedens. Soldaten, die in einem Gebäude übernachten, machen es zur legitimen Zielscheibe für den Feind. So sind die Kriegsregeln.
Was wäre passiert, wenn die Soldaten um Wyschebaba ausgespäht und angegriffen worden wären? Wie hätte dann die Meldung gelautet? Dass die russische Armee einen Kindergarten angriff und zerstörte? Oder, falls der russische Angriff misslang, dass ukrainische Soldaten mutig einen Kindergarten verteidigten?
Letzteres, die Darstellung der Begegnung mit der unbeschwerten Welt eines Kindergartens, ist dem Autor wichtig. Auch die abwesenden Kinder erinnern an die harte Wirklichkeit des Krieges, den sie erleben müssen und der zu ihrem albtraumhaften „Kindergarten“ wird, woran der grandiose Film von Jewgeni Jewtuschenko (“Der Kindergarten”) erinnert.
https://www.defa-stiftung.de/filme/filme-suchen/detski-sad/
Die Kriegsplaner und deren Propagandisten, die auf eine Konfrontation mit Russland aus waren, interessiert das alles nicht. Geopolitik kennt keine Moral. Wer die Welt beherrschen will, muss sich Territorien und Ressourcen untertan machen, „harte“ Entscheidungen treffen, auch wenn Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen Leben dabei zugrundegerichtet werden.
Der US-Radiomoderator und Autor Scott Horton recherchierte minutiös in seinem Buch, „Provoked“ (Provoziert), wie die USA und die von ihr geführte Nato die unipolare Weltordnung missbrauchten, im Fall des Balkans, im Fall des Kaukasus, im Fall der Ukraine und immer weiter auf dem Kalten Kriegspfad gen Moskau marschierten.
https://www.amazon.de/Provoked-Washington-Started-Catastrophe-Ukraine/dp/1733647376
Solange bis Russland die Provokation aufnahm und sich nun so verhielt wie seine Gegenspieler: völkerrechtswidrig. Dass sich die USA und andere Nato-Partner immer völkerrechtskonform verhalten hätten, kann nun wirklich niemand behaupten.
Man kann es nicht oft genug betonen: Die Nato hat sich der UN-Charta unterworfen und in ihrem Statut darauf verpflichtet, eine friedliche Konfliktlösung zu betreiben:
„Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen, jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, daß der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind.“
Sie tut nur nicht, was sie sich auferlegte.
Wenn aktuell ein deutscher Brigadegeneral, Huber, in Litauen von der „Klarheit der Mission“ spricht, Litauen als Teil des Nato-Bündnisgebiets militärisch zu schützen, dann ist das seine Mission. Dass Litauen und Russland eine gemeinsame Grenze haben, (Kaliningrad) macht sie besonders heikel. Aber darüber redet Brigadegeneral Huber nicht.
Wer in Russland einen ewigen Feind sehen will, muss wissen, dass damit auch Kaliningrad eine ewig glimmende Lunte bleibt, so wie alle ungelösten Konflikte das Potential haben, sich kriegerisch zu entladen.
Von atomarer Abschreckung steht nichts im Nato-Statut. Es steht auch nicht darin, dass Konflikte sich dadurch regeln, dass man immer näher an den erklärten Gegner heranrobbt. Normalerweise wird so etwas zu Recht als Sicherheitsbedrohung empfunden, siehe die Kuba-Krise.
Aber nein, die Nato muss mit dem Kopf durch die Wand, sie muss sich die Nato-Allianz backen, wie sie will, und ein Veto-Recht gibt es nicht. Für niemanden. Denn wo kämen wir hin, wenn unsere politischen und militärischen Ziele verhandelt werden müssten? Womöglich noch mit Russland? Das ist demonstrierte Stärke, weil Russland nichts anderes verstehe.
Also wurde auch nicht über die russischen Vorschläge zu einer neuen militärischen Sicherheitsarchitektur einschließlich der Absage an eine Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine vom Dezember 2021 verhandelt. Stoltenberg, damals Nato-Generalsekretär, war in dieser Frage ganz unverblümt. Statt weniger Nato hat Russland nun mehr Nato bekommen!
https://www.nato.int/cps/en/natohq/opinions_218172.htm
Gelöst wurde nichts.
Dass die Nato anti-russisch zu sein hat, war für Großbritannien erklärtermaßen sogar Teil der ganzen Operation Nato-Osterweiterung. Selbst 1997, also zu einem Zeitpunkt, zu dem Russland so schwach war und von inneren Krisen und Konflikten geschüttelt, dass das Land kaum hoffen konnte, wieder auf die Beine zu kommen.
https://www.nato.int/acad/conf/enlarg97/sharp.htm
Die Briten waren jedoch nicht allein mit dieser Auffassung. Definitiv waren es auch die neokonservativen Kräfte in den USA, die seit der Clinton-Administration das Steuer übernommen hatten. Wann sich genau in der EU und Deutschland der Wind drehte, wage ich immer noch nicht präzise zu behaupten. Nur, dass er sich drehte, ist gewiss.
Klar ist ebenfalls, dass sich die Nato in den Augen der Neokonservativen in eine Allianz verwandelte, die eine globale Mission hat. Bush jr. brachte es wie folgt 2004 auf den Punkt: Die Nato ist so viel mehr. Ob nun in Afghanistan, im Mittelmeer oder im Irak…Wer da mitmachte, ist Teil des „Teams“.
(„Our great transatlantic alliance has met and overcome great dangers in the past, and our work in NATO is not done. In the past, many assumed that NATO represented a pledge that America would come to the aid of Europe. Today, by our words and by our actions, we know that NATO means much more -- it is a solemn commitment that America and Europe are joined together to advance the cause of freedom and peace.
NATO is acting to meet the challenges of our time. NATO forces are securing Afghanistan, NATO ships are patrolling the Mediterranean, and NATO is supporting the Polish-led division in Iraq.)
https://www.nato.int/cps/en/natohq/opinions_21295.htm?selectedlocale=en
Deutschland war politisch nicht im „Team US“, als es um den Irak-Krieg ging. Das „Neue Europa“, wie Rumsfeld es einst ausdrückte, dagegen schon.
https://en.wikipedia.org/wiki/Old_Europe_and_New_Europe
Eine Studie, die sich mit der Motivation der baltischen Staaten (obwohl die drei grundverschieden sind) befasste, kam zum Schluss, dass es völlig verfehlt wäre, diese Staaten als „Trittbrettfahrer“ (oder „free riders“) zu beschreiben. Sie seien loyal und den USA immer verpflichtet.
Zusammenfassend war dort zu lesen:
„Diese Studie zeichnet ein Bild von Estland, Lettland und Litauen als loyalitätsbesessene Kleinstaaten, die eifrig bemüht sind, die Verhaltenserwartungen ihres Patrons zu erfüllen. Mit Worten und Taten unterstützen sie die strategischen Ziele der USA. So haben sie in von den USA geführten Feldzügen schwere Kriegslasten auf sich genommen und sich im geopolitischen Kampf gegen China auf die Seite Washingtons gestellt. Darüber hinaus verfügen sie über besondere Fähigkeiten in den Bereichen Cyberspace und Geheimdienste. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die baltischen Staaten die USA kontinuierlich für ihre verteidigungspolitischen Leistungen entschädigt haben.“
https://link.springer.com/article/10.1057/s42738-022-00096-3
Nun folgen wir den Spuren der baltischen Tiger auch in Deutschland. Man sollte sich nicht von der fehlenden Loyalität gegenüber der aktuellen US-Administration täuschen lassen. Das Jahr 2028 ist nicht so weit weg, und die Hoffnung, dass das Weiße Haus auf den alten außenpolitischen Kurs zurückkehrt, nicht gestorben.
Dann könnte eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine wieder auf dem Tisch liegen, schrieb die New York Times.
https://english.nv.ua/nation/trump-s-opposition-to-ukraine-s-nato-membership-will-not-bind-future-u-s-presidents-nyt-reports-50509467.html
Bis dahin soll die Ukraine, ginge es nach der EU, wieder in eine Position der „Stärke“ versetzt werden. Die Kindergärten, nicht zu reden von der Lage auf dem Schlachtfeld, spielen in solchen Szenarien keine Rolle, allenfalls die Hoffnung, dass der russische Machthaber Putin endlich einsieht, dass er längst verloren hat. Wenn nötig, soll er mit Gewalt dazu gebracht werden.
Putin allerdings sieht nur ein, dass es Verhandlungen geben soll. Auf der Basis von Realitäten. Sein Außenminister Lawrow legte die russische Sicht auf die Dinge ausführlich in einem Interview bei „Face the Nation“ dar.
Er wiederholte nichts anderes als das, was der russische Präsident seit Mitte des Jahres 2024 sagt.
Die Welt nannte die von Lawrow dargestellten russischen Forderungen „unfassbar“.
Unfassbar war allenfalls die Art der Gesprächsführung. Sie verdeutlichte, dass mit dem Feind nicht fraternisiert wird. Respekt verdient er auch nicht.
Unfassbar ist, was ein deutscher Ex-General gegenüber der Welt zu den Motiven des Vorschlags von Putin für eine Waffenruhe im Mai erklärte. Das sei „aus Respekt“ vor Selenskyj erfolgt, denn Putin wolle ausschließen, dass ukrainische Drohnen über Moskau auftauchen und die Feier zum 80. Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus stören könnten.
Tatsächlich musste man eine Bemerkung von Selenskyj, die nach dem russischen Vorschlag erfolgte, als Drohung an Moskau verstehen, die Feier zu sabotieren. (Der Kreml ist besorgt, die Parade könne gestört werden, zu Recht.)
Darauf reagierte dann wieder der Kreml, alles in allem recht gelassen.
https://www.newsweek.com/kremlin-responds-zelensky-moscow-parade-threat-2066054
Nur, diese Feier in Moskau ist kein militärisches Ereignis, sondern ein politischer Festakt mit hochrangigen internationalen Gästen aus 19 Ländern, einschließlich aus Europa.
https://www.nin.rs/english/news/75708/leaders-of-19-countries-announce-attendance-at-the-victory-parade-in-moscow
Hunderttausende russische Zivilisten werden ebenfalls feiern.
Auch in Kiew war der 9. Mai lange der „Tag des Sieges“.
2020 erklärte Präsident Selenskyj, diesen Sieg trage jeder im Herzen. Damals schlug er vor, vier Glocken aufzustellen: eine in der Region Luhansk, wo die Befreiung der Ukraine von den Deutschen begann, eine in Transkarpatien, wo sie vollendet wurde. Später - nach dem Sieg - sollten zwei weitere Glocken aufgestellt werden: Eine in Donezk, eine auf der Krim. Eines Tages sollen alle vier Glocken gemeinsam läuten, als Symbol des Sieges (gemeint scheint über Russland und den Donbass) und der ukrainischen Einheit.
2022 kündigte er anlässlich des Tages des Sieges an, demnächst werde die Ukraine zwei Siegestage feiern (Anmerkung: den des 9. Mai und den Siegestag über die russischen Invasoren), während ein Land dann keinen Siegestag mehr zu feiern hätte.
(„And very soon there will be two Victory Days in Ukraine. And someone will not have even one left.")
2023 wurde der 8. Mai in der Ukraine zum Tag des Sieges erklärt, der 9. Mai zum Europa-Tag. Wie im Zweiten Weltkrieg, so der Präsident, kämpfe die Ukraine nicht allein gegen das Böse. „Wir bekämpfen es zusammen auf die gleiche Art - gemeinsam mit der ganzen freien Welt.“
(„And like in the Second World War, we are not alone against evil. We fight against it together in the same way – together with the entire free world.“)
So verändert sich Gedenken.
Und dennoch, ich weigere mich, auch nur anzunehmen, dass der ukrainische Präsident befehlen könnte, den russischen Staatsakt zum 9. Mai mit Gewalt zu sabotieren. Es wäre nicht nur töricht, es wäre unverzeihlich, ein Akt blinder Gewalt, auch gegen sich selbst. Es wäre nicht wieder gut zu machen.
Wie der Krieg auch ausgehen mag, der ukrainische Abgeordnete Kostenko prognostizierte in einem Gespräch mit der Ukrainska Prawda die Zeit danach. Dann fange die „Arbeit“ des ukrainischen Geheimdienstes erst richtig an. Dann werden alle Feinde in Russland zur Verantwortung gezogen. Die sollen sich fürchten, auch nur ihre Wohnung zu verlassen. In den nächsten 10 bis 30 Jahren.
https://www.uawire.org/kyiv-ukrainian-intelligence-behind-assassination-of-russian-general-yaroslav-moskalik#
Terror ist die blutige Sprache der Ohnmacht.
In einem russischen Lied werden Kraniche (Журавли) mit den Seelen gefallener Soldaten assoziiert. Ich verlinke hier eine Aufnahme aus Magnitogorsk 2024, denn die Kameraführung erlaubt auch Einblicke in die Menge und deren Reaktionen.
Dieses Lied enthält nicht nur Trauer und Klage. In einer Textzeile versteckt sich Bereitschaft, eine Lücke im Kranichzug zu schließen. Man sollte das nicht mit blindem Heroismus verwechseln (der in der Sowjetunion lange offiziell gepflegt, aber von Künstlern wie etwa Wyssotzki scharf attackiert wurde).
Sie erscheint eher wie eine Schlussfolgerung aus der großen Tragödie, die 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete, so, als würde man nicht nur „Danke“ (Спасибо) sagen, sondern auch dem Ruf der Heimat (sie ist sowohl im Russischen als auch im Ukrainischen ebenfalls weiblich) folgen. Der Mutter.
Das erinnert an die Leitidee zweier Statuen, die zum Gedenken an den Zweiten Weltkrieg errichtet wurden. Eine steht in Wolgograd, eine in Kiew. Letztere wurde 2023 schließlich umbenannt, zur „Mutter Ukraine“, trägt nun den Trident. Das sei der lang aufgeschobene Moment der „Zerschlagung des sowjetischen Imperiums“ gewesen, auf den Generationen von Ukrainern gehofft hätten, hieß es in Le Monde.
Im November 2024 aber regte sich Kritik in der Ukraine. Womöglich habe die Namensänderung wegen eines (in Teilen der Ukraine) sehr populären Lieds soviel Zuspruch erhalten. Sie sei übereilt gewesen.
https://espreso.tv/kultura-takoi-potrebi-nemae-glava-uinp-drobovich-pro-pereymenuvannya-monumenta-batkivshchina-mati
In besagtem Lied heisst es: Unser Vater ist Bandera, unsere Mutter die Ukraine.
Mögen am 9. Mai 2025, wenn Russland und seine Gäste den Sieg über Hitler-Deutschland feiern, allein Kraniche über Moskau ziehen. Mögen sie die Himmel der Völker füllen, die Teil der Sowjetunion und der Anti-Hitler-Koalition waren. Mögen sie den Aufrechten jener Zeit Gestalt und Stimme geben.
So ernst die Lagen in der Welt auch sein mögen, so guttuend ist es die „Erlerin“ zu lesen, auch und gerade als Einstieg ins Wochende, und sei es im Exil!
Ihr gesamter Artikel ist für mich wieder ein Lichtblick in diesem Meer an Dummheit und Finsternis, welches diesen ganzen Krieg von westlicher Seite begleitet.
Aber Ihren beiden letzten Sätzen möchte ich besonders zustimmen und hoffen, daß es so sein möge....