Rückblick März 2022: Wer kein schnelles Kriegsende in der Ukraine wollte
Der Ukraine-Krieg, Telefondiplomatie und Wirtschaftskrieg, Männergespräche zwischen Scholz und Macron über Putin und die Warschaurede von Biden
BILD vom 29. August, die sich auf das Buch „Ernstfall“ von Lamby bezog (was ich nicht gelesen habe), berichtete über ein Telefonat des Bundeskanzlers mit Präsident Macron, das am 4. März 2022 stattgefunden haben soll. In diesem Gespräch sollen sie ihre Eindrücke aus Telefonaten mit Putin geteilt haben.
Einen Tag zuvor, am 3. März 2022, hatte sich Scholz den Fragen von Frau Illner gestellt. Dort sagte er unter anderem, man wolle mit den Sanktionen „Druck“ machen und andererseits, man müsse immer wieder „Spielräume für Diplomatie“ eröffnen. Er betonte, dass der Krieg immer mehr Opfer fordern würde, je länger er dauert.
Die jüngste Berichterstattung von BILD („Was Scholz nach seinem Telefonat mit Putin besonders quälte“) rückte zwei Dinge in den Vordergrund.
Erstens: Macron und Scholz wunderten sich, dass sich Putin nicht über die Sanktionen beschwerte.
Zweitens schrieb BILD das folgende:
„„Putin habe außerdem verschwörungstheoretische Ideen geäußert, erzählte Scholz außerdem: „Dann hat er gesagt, dass die ukrainische Delegation nach Polen aufgebrochen ist, weil sie mit den Präsidenten der Vereinigten Staaten sprechen will, um ihre Anweisungen zu erhalten ...“ Scholz habe dann gelacht und resümiert: „Mehr oder weniger. Das war’s.“
Macron habe geantwortet: „Danke, das war sehr ähnlich wie bei der Unterhaltung, die ich gestern mit ihm hatte. Ich denke, er ist jetzt ganz entschlossen, bis zum Ende zu gehen. Das Narrativ und die Brutalität seiner Botschaft, die im Fernsehen übertragen wurde, ebenso wie die ganzen Initiativen, die er in den letzten Stunden in Gesprächen mit zivilen Organisationen in Russland unternahm, sind sehr beunruhigend. Um es klar zu sagen.“
Beiden sei klar gewesen, dass sich Putin stark radikalisiert habe und unberechenbar sei.““
Tatsächlich fielen in diese Zeit die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, das Bemühen um einen diplomatischen Ausweg, den der Kanzler im Gespräch mit Illner noch betont hatte. Die Türkei und auch der ehemalige israelische Ministerpräsident Bennett waren eng involviert. Das spielt in der BILD-Darstellung keine Rolle.
Ein Blick in die amtlichen Pressemitteilungen des Bundeskanzlers zeigt, dass Scholz von den Verhandlungen damals nicht nur wusste, sondern einer Verhandlungslösung auch die Präferenz gab.
Am 4. März 2022 telefonierte er mit Putin. In der offiziellen Presseerklärung dazu hieß es:
„Präsident Putin informierte den Bundeskanzler, dass Russland und die Ukraine eine dritte Runde von Gesprächen für dieses Wochenende vorgesehen hätten. Putin und Scholz vereinbarten, zeitnah weitere Gespräche zu führen.“
Am 6. März 2022 traf Scholz sich mit Bennet. Dazu hieß es:
„Bundeskanzler Olaf Scholz hat am Abend den israelischen Premierminister Naftali Bennett getroffen. Im Mittelpunkt des 90-minütigen Gesprächs standen die Ergebnisse der Unterredung, die der Ministerpräsident am Samstag mit dem russischen Präsidenten Putin in Moskau gehabt hatte. Man vereinbarte, in der Angelegenheit weiterhin eng in Kontakt zu bleiben – gemeinsames Ziel bleibe es, den Krieg in der Ukraine so schnell wie irgend möglich zu beenden. Daran werde man mit aller Kraft arbeiten.“
Am 7. März 2022 gab es eine Videokonferenz zwischen dem US-Präsidenten, dem britischen Premier, Präsident Macron und dem Bundeskanzler. In der Presseerklärung war zu lesen:
„Sie waren sich einig, dass jedwede diplomatische Anstrengung zur Überwindung der Krise Unterstützung verdiene.“
Am 8. März 2022 telefonierten Macron, Scholz und der chinesische Präsident Xi miteinander.
Dort findet sich die Aussage:
„Bundeskanzler Scholz, Staatspräsident Macron und Staatspräsident Xi waren sich dabei einig, in vollem Umfang alle Verhandlungen zu unterstützen, die auf eine diplomatische Lösung des Konflikts gerichtet sind.“
Am 12. März 2022 telefonierte der Bundeskanzler erst mit dem ukrainischen Präsidenten und dann mit dem französischen Präsidenten. Offiziell wurde verlautbart:
„Das Gespräch ist Teil der andauernden internationalen Bemühungen, den Krieg in der Ukraine zu beenden. In dem 75-minütigen Gespräch drangen der Bundeskanzler und der französische Präsident auf einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine und auf einen Einstieg in eine diplomatische Lösung des Konflikts. Über weitere Inhalte des Gesprächs wurde Stillschweigen vereinbart.“
Am 14. März 2022 reiste der Bundeskanzler nach Ankara. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz sagte Erdogan, der als erster das Wort ergriff:
„Wir sind uns darin einig gewesen, dass, während auf der einen Seite notwendige Maßnahmen für die Sicherheit Europas ergriffen werden, auf der anderen Seite diplomatische Bemühungen für eine Lösung beschleunigt werden müssen.“ Der Bundeskanzler äußerte sich sinngemäß und lobte das türkische Vermittlungsbemühen.
Am 16. März 2022 fand ein Telefonat mit dem Papst statt. Laut Pressemitteilung kamen beide Gesprächsteilnehmer wie folgt überein:
„Papst Franziskus und der Bundeskanzler waren sich einig, dass der Krieg in der Ukraine sofort enden müsse. Ein Waffenstillstand sei angesichts der humanitären Lage vordringlich und notwendig, um weiteres Leid abzuwenden.“
Am 23. März 2022 telefonierte Scholz sowohl mit Putin als auch mit Selensky. In der Erklärung stand:
„Im Nachgang (Anm.: zum Telefonat mit Putin) hat der Bundeskanzler mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky gesprochen und sich über dessen Einschätzung der aktuellen Lage und zum Verhandlungsprozess informiert.“
Am 29. März 2023 telefonierten Scholz, Biden, Draghi, Macron und Johnson erneut zur Lage in der Ukraine. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich offenbar die Forderungshaltung verändert. Nunmehr gab es ganz klare Vorbedingungen für eine diplomatischen Lösung:
„Die Staats- und Regierungschefs waren sich einig, die Ukraine weiter tatkräftig zu unterstützen. Sie drängten den russischen Präsidenten Putin erneut dazu, einer Waffenruhe zuzustimmen, alle Kampfhandlungen einzustellen, die russischen Soldaten aus der Ukraine abzuziehen und eine diplomatische Lösung der Krise zu ermöglichen.“
Darüber hinaus fanden es im März 2022 noch zwei weitere Telefonate des deutschen Bundeskanzlers mit Putin statt. Sie wurden nur durch den Kreml öffentlich gemacht.
Eines wurde am 18.März geführt (Initiative Scholz):
“Vladimir Putin also provided an assessment of the talks between Russian and Ukrainian representatives held via videoconference. It was noted that Kiev was seeking every opportunity to try to prolong the negotiation process by making new unrealistic proposals. Nevertheless the Russian side is ready to continue searching for ways out in the spirit of its well-known principled approaches.”
(Wladimir Putin gab auch eine Bewertung der per Videokonferenz geführten Gespräche zwischen russischen und ukrainischen Vertretern ab. Es wurde festgestellt, dass Kiew jede Gelegenheit wahrnehme, um zu versuchen, den Verhandlungsprozess durch neue unrealistische Vorschläge in die Länge zu ziehen. Dennoch ist die russische Seite bereit, im Geist ihrer bekannten prinzipiellen Ansätze weiterhin nach Auswegen zu suchen.“)
Ein weiteres, nicht vom Bundeskanzleramt öffentlich gemachtes Telefonat erfolgte am 30. März 2022. In der offiziellen Darstellung des Kreml hieß es:
„Vladimir Putin and Olaf Scholz exchanged views on the latest round of talks between Russian and Ukrainian representatives in Istanbul held the day before.”
(“Wladimir Putin und Olaf Scholz tauschten Einschätzungen zur letzten Verhandlungsrunde zwischen den russischen und ukrainischen Vertretern aus, die am Tag zuvor in Istanbul stattgefunden hatte.”)
Im April 2022 gab es keine offiziell bekannt gemachten Telefonate zwischen Scholz und Putin.
Dank des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Bennett wissen wir inzwischen, dass Deutschland und Frankreich die Verhandlungen zunächst unterstützten, diese dann aber vom „Westen“ nicht mehr gewollt waren. Putin machte das Verhandlungsergebnis, einen paraphierten Vertrag zwischen Russland und der Ukraine, gegenüber afrikanischen Staaten öffentlich.
Eine Kurzfassung der von Bennet gemachten wesentlichen Aussagen (5 Stunden Interview) wurde von einer indischen Nachrichtenagentur veröffentlicht. Danach hatte sich auch Deutschland laut Bennet für die Weiterführung des Krieges in der Ukraine entschieden. Bennett sagte, er halte diese Entscheidung für falsch.
Das alles spielte in der Berichterstattung der BILD keine Rolle. Ihre Leser sollen an ein radikalisiertes, unberechenbares Monster im Kreml glauben und vergessen (oder nie erfahren), dass ein schnelles Kriegsende im Frühjahr 2022 möglich gewesen wäre und Deutschland das zunächst befürwortete.
Mit der Unterstützung einer Verhandlungslösung hätten sich Frankreich und Deutschland allerdings gegen die USA gestellt. Was die im Sinn hatte, erklärte Biden in einer sehr gut komponierten Rede in Warschau am 26. März 2022. Er schwor damals den Westen öffentlich auf einen sehr langen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie ein, in dem die Demokratie siegen werde. Er verwies auf Begegnungen mit ukrainischen Kindern, die ihn ängstlich gefragt hätten, ob sie ihre Väter wiedersehen würden. Er hatte für sie keine Antwort, er versprach ihnen nicht, alles ihm Mögliche zu tun, damit ihre Ängste nicht Wirklichkeit würden. Kein Wort fiel zu einer möglichen Streitschlichtung. Stattdessen erklärte Biden, er habe bereits vorher alles getan, um durch Verhandlungen Putin auf dem diplomatischen Weg zu halten (was einer Prüfung der Fakten nicht standhält).
Aber mehr noch, Biden unterlief ein Ausrutscher. Im vorletzten Satz der Rede verlangte er den Regime change in Moskau („In Gottes Namen, der Mann -gemeint war Putin- muss gehen“).
Washington reagierte zwar umgehend und betrieb - ohne Rücksprache mit Biden, wie inzwischen klar ist – Schadensbegrenzung. So sei das nicht gemeint gewesen. Denn so weit war kein US-Präsident öffentlich je gegangen, auch nicht zu Zeiten des Kalten Krieges.
Aber jeder, der die Rede in aller Ruhe analysierte, wusste, dass der US-Präsident aus Versehen nur die logische Schlussfolgerung aller vorherigen Ausführungen ausgeplappert hatte.
Denn diese Rede war auch zutiefst siegesgewiss. Russland habe das Gegenteil geerntet, von dem, was es gewollt hätte: Statt weniger nunmehr mehr NATO an seinen Grenzen. Das Land sei abgeschnitten von der Welt und ins 19. Jahrhundert zurückgefallen.
In Warschau äußerte sich Biden auch zum Ziel der westlichen Sanktionen. Sie sollten die russische Wirtschaft schädigen. Bald wäre der Rubel nur noch „rubble“ (Schrott/ Schutt). Die russische Wirtschaft sei dabei, in den kommenden Jahren um die Hälfte zu schrumpfen. War die russische Wirtschaft vor dem Krieg noch unter den elf größten der Welt, würde sie bald nicht mehr unter den ersten 20 sein, so Biden. „Alles zusammengenommen, seien die westlichen Sanktionen „eine neue Art wirtschaftlicher Staatskunst mit der Macht, Zerstörungen anzurichten, die militärischer Macht gleichkommen.“(eigene Übersetzung).
Das war die unverhüllte Ansage eines Wirtschaftskriegs.
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Wer so etwas im Kopf hat (Frau Baerbock war noch direkter als der US-Präsident und prognostizierte, dass die Sanktionen Russland „ruinieren“ würden), kommt natürlich ins Grübeln, warum sich Putin nicht über die Sanktionen beschwerte.
Wussten Scholz (und Macron, der ebenfalls ganz erstaunt gewesen sein soll) nicht, dass in der Sitzung des russischen Sicherheitsrates vor Kriegsbeginn das Thema Sanktionen bereits eine Rolle gespielt hatte und dort mit einem gewissen Fatalismus kommentiert worden war? (Was immer wir tun werden, mehr Sanktionen sind uns gewiss.)
Wussten sie nicht, dass seit Jahren für politisch Interessierte absehbar war, welche Sanktionen für Moskau längst in der Schublade lagen? (Im Europäischen Parlament gab es dazu Resolutionen.)
Moskau scheint es gewusst zu haben, und damit hatte Moskau auch hinreichend Zeit, die Annahmen, die diesen Sanktionsabsichten zugrunde lagen, zu analysieren und Schlüsse daraus zu ziehen. Für China gilt das gleiche und im weiteren Sinn für die Brics-Staaten.
Hat wirklich niemand im Westen damit gerechnet, dass Russland nicht so alleine dastehen würde wie gedacht? Wurden die BRICS wirklich so sträflich unterschätzt? Es scheint bis heute so.
Hat wirklich niemand Wichtiges geahnt, dass ein Aussperren Russlands aus dem SWIFT-System und das Einfrieren von 300 Mrd. Dollar an Vermögenswerten der russischen Zentralbank (im Ausland) einen weltweiten Schock auslösen und als Warnung für andere Staaten dienen würde, dass die Verwendung des US-Dollars zum zweischneidigen Schwert werden kann?
Nebenbei: Kann man eigentlich eingefrorenes Auslandsvermögen verkaufen? Gehört das, was heute eingefroren ist, überhaupt noch Russland? Man hört so gar nichts mehr von den Plänen, sich dieses Vermögen förmlich anzueignen. Oder ist der Diebstahl rechtlich doch zu kompliziert?
Merkte niemand, dass diese Sanktionen auch Geschenke an Moskau enthielten, die die dortigen Machthaber nur begrüßen konnten? Der Westen stutzte quasi stellvertretend für den Kreml den russischen Oligarchen die Federn. Mehr noch, Russland hatte sehr lange ein Problem mit der Allokation von Investitionen, denn wenn Rohstoffe so attraktiv sind, wer investiert dann in den weniger rentablen Rest der Wirtschaft? Der massive Rückzug westlichen Kapitals stimulierte so Investitionen in bisher vernachlässigte Bereiche. Was heute in Russland wächst, ist nicht nur vergängliche Kriegswirtschaft (also eine Blase), wie aktuell einige hoffnungsfroh behaupten. Inzwischen ist Russland ein für Deutschland und die EU fast verlorener Markt, der nicht isoliert ist, sondern nunmehr von anderen strategisch besetzt wird.
Und schließlich, hatte niemand im Kalkül, dass man nicht gleichzeitig die Achtung des Völkerrechts einfordern und dagegen verstoßen kann mit einer beispiellosen Wirtschaftsstrafaktion, die den ganzen Globus durcheinanderwirbeln würde?
Wenn man sich zum selbstermächtigten Wirtschaftskrieger aufschwingt, ist ja wohl kaum zu erwarten, dass die übrige Welt wegsieht und den Kollateralschaden mit Achselzucken in Kauf nimmt und weiter einen fröhlichen Kotau vor den USA und der EU übt? In diesem Sinn spricht die Erweiterung der BRICS Bände. Und Afrika gerät auch in Aufruhr.
Könnte es am Ende so gewesen sei, dass Putin kühl kalkulierte und sich nur deshalb nicht bei Scholz und Macron beschwerte, weil er wusste, dass das sowieso keinen Zweck haben würde?
Könnte es vielleicht so gewesen sein, dass er den Zustand seines Land besser kannte als die beiden und damit rechnete, dass Russland zwar schwer getroffen, aber nicht brechen würde.
(Laut Weltbank war Russland 2022 die achtgrößte Weltwirtschaft und die Tendenz ist laut IWF-Prognose weiter günstig.)
https://www.publicdebtnet.org/pdm/.content/News/News-17578.html
Denn es hat China und Indien auf seiner Seite. Und die Zahl der Staaten steigt, die der gegenseitigen Kooperation den Vorzug geben vor der bedingungslosen Unterordnung unter US-Hegemonialansprüche.
Könnte es sein, dass dieser Putin sich damals fragte, warum sich Frankreich und Deutschland selbst entmannten und zum weiteren wirtschaftlichen Abstieg verdammten? (Der wirtschaftliche Abstieg der EU begann 2008, die Sanktionswirkungen und die US-Politik beschleunigen ihn allerdings.)
Aber so gemein wie dieser Putin ist, so „radikalisiert und unberechenbar“ (laut BILD) hatte der garantiert auch noch die alte chinesische Kriegslist im Hinterkopf: Wenn dein Gegner einen Fehler macht, hindere ihn bloß nicht daran.
Das allerdings führt zur logischen Schlussfolgerung, dass diejenigen, die nicht wussten, was sie taten, als sie sich für einen Wirtschaftskrieg gegen Russland und gegen ein schnelles Kriegsende in der Ukraine entschieden, alle Moral vergessen hatten und bar jedes echten Mitgefühls mit den eigentlichen Opfern ihrer Entscheidungen sind, hierzulande und weltweit.
Sie übersahen die neue Dynamik in der Welt. Wenn Deutschland auch noch dem China-Kurs der USA folgt, sind wir als eine führende Industrienation endgültig abgemeldet.
Wieso verriet Berlin die wichtigste Lektion, die nach dem Zweiten Weltkrieg den europäischen Weg begründete und an der Wiege zur europäischen Einigung stand? Europa ist nur dort friedlich, wo es sich eint.
Die Welt ist nur dort friedlich, wo sie sich integriert.
Was das Ganze noch sehr viel schlimmer macht, ist die völlig geschichtsvergessene Arroganz der aktuellen deutschen Führung, die regelrecht der AFD einen roten Teppich ausbreitet. Sie hat nicht nur vergessen, was Deutsche einst Europa und der Welt antaten, sondern auch, wer sie vom Trauma des Nationalsozialismus befreite, wer uns den Weg in die deutsche Einheit ermöglichte. Das verdanken wir allen vier Siegermächten des 2. Weltkrieges, und allen voran der Sowjetunion. Und den Auflösern der Sowjetunion danken wir, dass diese wenigstens die Kontrolle über die sowjetischen Nuklearwaffen regelten und also nicht die Welt in die atomare Instabilität schickten. Sie verfügten damals ebenfalls, dass alle Nuklearwaffen der Sowjetunion, die auf dem Boden der Ukraine stationiert waren, zerstört werden sollten. (Was allerdings erst durch das Budapester Abkommen 1994 eingelöst werden konnte.)
Aber Berlin scheint vergesslich. Unter US-Fahne wird mitmarschiert wie in einer heiligen Mission. Denn nichts anderes hatte der US-Präsident 2022 in Warschau ausgerufen: Auf zum ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, Dunkelheit und Licht. Die Demokratie wird siegen. Total. Dafür muss man Opfer bringen. Dafür muss in der Ukraine gestorben werden.
Bei einer Verhandlungslösung hätte Russland womöglich ein zentrales Interesse, die Neutralität der Ukraine, realisiert (Dazu sollte es ein Referendum geben). Das durfte nicht sein.
Mit dem angeblich neuen Hitler („Putler“) wird nicht verhandelt. Und mit jedem Tag, den das Gemetzel in der Ukraine weiter andauert, wird es scheinbar einfacher, das universell Böse in russischer Menschengestalt zu brandmarken. (Faschist, Mörder, Kriegsverbrecher). Da kann man sich richtig schön ekeln, voller Abscheu abwenden und herzlich hassen. Ist es nicht furchtbar, all die Gewalt… Man fühlt sich gleich so viel besser und überlegener dabei, während die alte Welt langsam in Scherben fällt, und der Nuklearkrieg „an die Tür klopft“ (Orban bei Tucker Carlson auf X).
Was Biden in Warschau noch versehentlich sagte, regelte die Ukraine am 3. Oktober 2022 per Dekret: keine Verhandlungen mit Russland unter Putin.
Berlin billigte das schweigend.
Was die Ukraine wirklich will, war beim Generalsekretär des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrates Danilow im Februar 2023 und in der Folge auch in der TAZ im April 2023 unter der Überschrift „Russland vernichten“ nachzulesen:
„Der wahre Sieg der Ukraine ist ein Zerfall russlands (Kleinschreibung im Original, Anm. d. Red.), sein Verschwinden als kohärentes Subjekt der Geschichte und Politik.“
https://taz.de/12-Punkte-Plan-zur-Krim/!5923141/
Da war selbst Melnyk noch gemäßigter, der sich „nur“ wünschte, dass Russland so am Boden liegen solle wie einst Deutschland 1945.
In der TAZ war im April ebenfalls - allerdings nur selektiv - nachzulesen, wie sich die rechte Hand von Selensky die „Befreiung“ der Krim nach einem militärischen Sieg vorstellt. Es ist ein anti-russisches „Entgiftungsprogramm“, ein Programm gnadenloser Vergeltung und individueller Entrechtung. Es ist ein Dokument des Grauens, dem die Ideologie einer ent-russifizierten und also „gesäuberten“ Ukraine zugrunde liegt. Es ist vollständig einsehbar unter folgendem link (in Englisch).
https://odessa-journal.com/public/oleksiy-danilov-12-steps-of-deoccupation-of-crimea
Laut Wikipedia hatte das im Westen nicht anerkannte Krim-Referendum eine Wahlbeteiligung von 87 Prozent. 97 Prozent davon stimmten für „den Beitritt zur Russischen Förderation“.
Über denen allen hängt jetzt das von Danilow verkündete Damoklesschwert. Wo soll das hinführen? Vor solch angedrohter „Befreiung“ kann man sich nur fürchten, ihr entfliehen oder dagegen kämpfen, bis zum letzten Blutstropfen. Und das gilt nicht mehr nur für die Krim, sondern auch für den abtrünnigen Donbass. Da beide Gebiete, einschließlich der dort verbliebenen Bevölkerungsteile, nach russischem Recht nun Teil Russlands sind, wird es so Teil des russischen Krieges. Nie hätte es soweit kommen dürfen.
Nichts davon hat die Berliner Führung zum Nachdenken gebracht, und auch nicht dazu, Kiew zu bescheiden, dass allein eine (drohende) Destabilisierung Russlands ein weltweiter Albtraum und ein Instabilitätsfaktor erster Güte wäre, und mindestens ein Territorium erfassen würde, das von der Arktis über Europa bis an den Pazifik und nach Asien reicht, Naher und Mittlerer Osten eingeschlossen. (Zugegeben, im Falle der Meuterei von Prigoschin fielen ein paar mahnende Worte.)
Mindestens 25 Prozent der Menschheit könnten direkt ins Chaos oder noch weitaus Schlimmeres gestürzt werden (nebenbei: die Ukraine, auch Deutschland sind Teil dieser 25 Prozent. Das bringt allein die Geographie mit sich).
Und damit ist noch nicht einmal das Risiko eines atomaren Kriegs erfasst, für den Fall, dass die russische Existenz auf dem Spiel stünde (das würde den Griff zur Nuklearwaffe gemäß der russischen Doktrin ermöglichen).
Wer kann und will so eine Aussicht überhaupt verantworten? Man fragt sich, was die Berliner Führung unter „Sicherheitspolitik“ versteht.
Normalerweise hätte sie längst die Notbremse ziehen und sich aktiv mindestens für die Wiederherstellung eines Mindestmaßes an Vertrauen mit Russland engagieren müssen, damit eine minimale Verständigung, wenn nicht sogar Verhandlungen wieder möglich werden. Am Ende muss eine europäische Sicherheitsordnung stehen, die inklusiv ist und den berechtigten Sicherheitsinteressen aller genügt, einschließlich der Ukraine, einschließlich Russland.
Aber so etwas denkt ja angeblich nur Putins Fünfte Kolonne (und China), während aufrechte Demokraten dem „Putler“ nunmehr Mores lehren wollen, wegen der Ukraine und für die Ukraine, die jeden Tag ein bisschen mehr ausblutet, aber wenigstens für eine ungemein gute Sache. Damit ist nicht die Demokratie oder Freiheit der Ukraine gemeint, sondern die strategische Schwächung bzw. Vernichtung Russlands. Washington ist dieser Frage ganz unverblümt.
Nein, so soll und darf dieser Artikel nicht enden. Besser doch so:
Die westlichen Wirtschaftssanktionen werden Russland auszehren, so wie der Krieg. Von dem Doppelschlag erholt es sich nie. Die Ukraine wird zum zweiten Afghanistan für Russland, die ukrainischen Heldinnen und Helden werden militärisch siegen. Dann wird Biden wiedergewählt und die Ukraine wird endlich frei sein und kann Teil der EU und der NATO werden. Nie war deshalb Steuergeld besser angelegt, auch, weil das wichtig ist als Nachricht an China und überhaupt.
Die, die eine Milliarde Menschen regieren, wissen am besten, was gut für die gesamten acht Milliarden ist.
Wer nicht hören will, muss fühlen. Wozu gibt es Zuckerbrot und Peitsche, westliche Unterstützungsprogramme mit klaren politischen Zielstellungen, westlich konditionierte Kredite und Sanktionen? Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns. Moskau lügt immer, Washington (und seine Alliierten) nie. Also Vorsicht vor Feindpropaganda, Desinformationsversuchen und auch den inneren Feinden der Demokratie.
Wir und der ganze Rest der Welt werden dann die Ohren anlegen, künftig Männchen machen und reuig versprechen: Nie wieder auch nur der Hauch eines abtrünnigen Gedankens. Das war alles nur Putins Schuld.
Oliver Anthony wird nie wieder „Rich Men North of Richmond“ singen und sich seiner Anmaßung als „kleiner Mann“, seiner rechten (oder linken?) verschwörungstheoretischen und zutiefst spalterischen Gedanken schämen.
Nie wieder wird es russische Flaggen in Afrika geben, die aus französischen Fahnen genäht wurden.
Die BRICS werden sich für die Lachnummer entschuldigen, die sie in Wahrheit sind. Peking wird das Seidenstraßenprojekt aufgeben und vergessen, dass Taiwan zu China gehört. Überhaupt wird es nie wieder bockige Länder wie den Iran oder Saudi-Arabien, Südafrika, Algerien oder Brasilien geben, von solchen staatlichen Monstern wie Kuba oder Nordkorea ganz zu schweigen.
Und wenn das russische Gas erst einem wohlwollenden milliardenschweren „Philantropen“ gehört, dann ist es auch demokratisch und so sauber, wie die „umweltfreundliche Mobilität“ der Panzer von Rheinmetall. Die „regelbasierte Ordnung“ unter US-Vorsitz, sie lebe ewig! So ewig wie Nuklearwaffen (im Verständnis der NATO). Es ist eine große Ehre, den USA-Eliten dienen zu dürfen. Die deutsche Führung hat das schon vorbildlich begriffen.
Das alles ist alternativlos, wie Merkel zu sagen pflegte.
Liebe Petra Erler,
Sie haben sich wieder einmal selbst übertroffen! Von A bis Z ganz hervorragend!
Sehr gut herausgearbeitet: objektiv waren die "ruinierenden" Sanktionen ein höchst effektives Investitionsprogramm für Russland.
Liebe Frau Erler,
ich verbeuge mich tief und ziehe meinen Hut!
Und nun schlage ich vor, diesen Artikel im "Vorwärts", der "Zeit" und der "FAZ" an prominenter Stelle unterzubringen ....