Hunger in Afrika
Im Spiegel war zur ausufernden Hungerkatastrophe in Afrika unter der Überschrift „Der lange Arm Putins“ das Folgende zu lesen
„In diesen Tagen schafft es Wladimir Putin, den Kreis der Opfer seines Angriffskrieges mit einem Schlag zu erhöhen.“
Und der Spiegel weiß auch den Grund: russische Kriegsschiffe im Schwarzen Meer blockierten die ukrainischen Exporte.
Zuvor hatte im Mai eine Videokonferenz zwischen dem Präsidenten der Afrikanischen Union und der EU stattgefunden. Er bat die EU, die Kollateralschäden ihrer Sanktionspolitik zu begrenzen, berichtete die FT unter der Überschrift „African Union warns of ‘collateral impact’ as EU’s Russia sanctions hit food supplies“.
Die EU-Kommissionspräsidentin hatte darauf laut FT eine einfache Antwort: Putin ist schuld. Im erwähnten FT Artikel findet sich aber auch eine Aussage eines Kommissionsbediensteten, der darauf verweist, dass die EU-Sanktionen und speziell der Ausschluss vieler Banken aus dem Swift-System „a glitch“ (also eine Art Panne) verursacht hätten.
Dann reiste der Präsident der Afrikanischen Union, Macky Sall, Präsident des Senegal, nach Sotschi, um sich mit dem russischen Präsidenten zu treffen. Auch das kommentierten die Medien.
FAZ berichtete vom Besuch unter der Überschrift „Afrikanische Union: Putin bereit zu Getreideexport nach Afrika“ unter anderem das Folgende:
„Fraglich ist, ob sich der russische Präsident an eine mögliche Abmachung hält. Gegenüber dem französischsprachigen Magazin „Jeune Afrique“ hat Macky Sall kürzlich in einem Interview gesagt, dass es bereits Anfang März ein Telefonat zwischen ihm und Putin gegeben habe – auf Salls Initiative hin. Darin hatte Sall nach eigenen Angaben gesagt, dass sich Afrika angesichts des Krieges „zwischen Hammer und Amboss“ befände. Damals habe er um einen Waffenstillstand gebeten. Putin hätte Sall signalisiert, dass er für Verhandlungen mit der Ukraine bereit sei.“
Anmerkung: Wer hat die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine hintertrieben und hintertreibt sie noch heute? Antwort: Der Westen.
Das Handelsblatt berichtete, die Afrikanische Union wolle einen Waffenstillstand, ein Ende des Krieges und die Freigabe aller Lebensmittelprodukte. Auch die Kreml-Position wird erwähnt: Wir sind nicht schuld, schuld sind die Minen.
Die Süddeutsche Zeitung entschied sich für folgende Zusammenfassung: „Russland hält Weizenexporte zurück und verschärft so die Hungerkrise in Afrika. Die Afrikanische Union fordert ein schnelles Ende der Blockade“.
Das alles wirft ein Schlaglicht auf die heutige Politik und die Art und Weise ihrer medialen Begleitung: Man vereinfache ein kompliziertes Problem und verfüttere es an den arglosen Konsumenten, so dass dieser dann weiß, wen er hassen muss, wenn demnächst in Medien wieder unerträgliche Bilder von fast verhungerten afrikanischen Säuglingen auftauchen.
Sowohl Russland (weltgrößter Exporteur) als auch die Ukraine (fünftgrößter Getreideexporteur) haben eine wichtige Rolle für die Ernährungssicherung in Afrika (und darüber hinaus). Es würde an dieser Stelle zu weit führen, wie es im Einzelnen dazu kam, dass Afrika seine eigene Ernährungsbasis verlor und heute das erste Opfer des Klimawandels ist. Das wäre eine lange Geschichte, die sehr viel mit westlicher Politik zu tun hat.
Springen wir also in die Gegenwart und befassen wir uns mit ein paar
Fakten.
Es gibt nicht „nur“ ein Nahrungsmittelproblem. Es gibt auch ein Düngemittelproblem. Beide hängen zusammen. Das Düngemittelproblem ist eine Folge der Verpflichtung der Industrie auf strengere Emissionswerte
in Verbindung mit der angespannten Lage im globalen Erdgasmarkt, die sich im letzten Herbst abzeichnete.
Deshalb berichtete Bloomberg im November 2021, dass die US-Landwirtschaft damit rechnen müsse, dass die Versorgung mit Düngemitteln schwierig wird. Sie wurden knapper und teuer, was Auswirkungen auf Erträge und die produzierten landwirtschaftlichen Güter hat.
https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-11-04/nitrogen-shortage-to-force-u-s-farmers-to-scale-back-fertilizer
Wer etwas weiterdenkt, konnte schon damals ahnen, dass sich daraus ein Ernährungsproblem entwickelt, denn nicht nur US-Farmer hatten diese Sorgen.
Im April 22 prognostizierte die Weltbank, dass die hohen Düngemittelpreise auch 2023 anhalten könnten, es sei denn, die Exporte aus Belarus und Russland nähmen wieder zu.
https://blogs.worldbank.org/opendata/fertilizer-prices-expected-remain-higher-longer
Soweit ich weiß, exportierte Belarus früher Düngemittel über das litauische Klaipeda. Das ist heute nicht mehr möglich.
Wer kauft (importiert), muss bezahlen können, oder Kredit haben. Das ist durch die westlichen Sanktionen gestört worden. Absichtlich. Und da SWIFT das dominierende Zahlungssystem ist, wirken die Sanktionen des Westens auch auf alle, die in diesem System (noch) operieren, es sei denn, sie büxen aus.
Der Rat der EU erläuterte, was der Ausschluss von Belarus und Russland aus dem Swift-System bewirkt, wie folgt:
„Technically, banks could carry out international transactions without SWIFT, but it is expensive, complex and requires mutual trust between financial institutions. It brings payments back to the times when telephone and fax were used to confirm each transaction.”
Übersetzung
„Technisch gesehen könnten Banken internationale Transaktionen ohne SWIFT durchführen, aber es ist teuer, komplex und erfordert gegenseitiges Vertrauen zwischen den Finanzinstituten. Es bringt die Zahlungsabwicklung zurück in eine Zeit, in der Telefon und Fax benutzt wurden, um jede Transaktion zu bestätigen.“
Das führt uns zur Lage im afrikanischen Bankensystem, das schwach um die Brust ist.
Man muss mitbedenken, dass in Afrika auch westliche Banken operieren, die einen Teufel tun werden, mit Banken Geschäfte zu machen, die in ihren Heimatländern auf der schwarzen Liste stehen.
Alle Importe müssen zudem transportiert werden und Getreide wird traditionell aus Kostengründen per Schiff transportiert. Der ist schon wegen der Energiepreise verteuert und alternative Routen (im Fall der Ukraine) sind nur partiell vorhanden und wirken zusätzlich preistreibend.
Es geht also nicht nur um den Zugang zu Nahrungsmitteln, sondern auch um ihre Erschwinglichkeit.
Zum Schiffstransport aus der Ukraine und aus Russland
Nun ist aber der Schiffstransport wegen des Kriegs in der Ukraine und wegen der westlichen Sanktionspolitik gegen Russland außer Kontrolle geraten. Schifffahrtsunternehmen zögern, russische Häfen anzulaufen.
Speziell im Schwarzen Meer und im Asowschen Meer lauern zudem echte Risiken, von russischen oder ukrainischen Flugkörpern oder ukrainischen Minen getroffen zu werden. (Unglücklicherweise hat ein Sturm dazu geführt, dass diese Minen, die auch im Hafen von Odessa ausgebracht wurden, sich anscheinend selbständig gemacht haben und damit unkontrollierbar wurden.)
Der größte Hafen der Ukraine, Odessa, ist seit Kriegsbeginn geschlossen.
In Mariupol, so russische Quellen, wären inzwischen die Minen geräumt.
Am 3. März erging eine Warnung an alle Schiffe, die unter der Panama-Flagge fahren, das Asowsche Meer und das Schwarze Meer zu meiden.
https://www.irclass.org/technical-circulars/panama-mmn-032022-reg-ukrainian-and-russian-waters-in-the-black-sea-and-sea-of-azov-1/
Die Warnung war nicht unbegründet, denn zuvor war ein Schiff aus Bangladesch, die MV Banglar Samriddhi, getroffen worden. Ein Besatzungsmitglied starb. Laut ukrainischen Quellen war Russland schuld. Laut TASS waren die Ukrainer schuld.
Dann sank das estnische Schiff „Helt“, das unter der Flagge Panamas fuhr. Erst hieß es, es sei durch die russische Seite attackiert worden,
https://www.seanews.com.tr/general-cargo-ship-mv-helt-attacked-and-sinking-off-odessa-crew-waits-to-be-rescued/192644/
dann, es wäre durch russische Kriegsschiffe in „unsichere“ Gewässer gedrängt und als Schild missbraucht worden.
https://gcaptain.com/russia-used-civilian-ship-as-a-human-shield/
Tatsächlich ankerte es im Hafen von Odessa und wurde dort wahrscheinlich von einer Mine zerstört.
https://www.seatrade-maritime.com/casualty/estonian-cargoship-helt-sunk-odesa
Es ist völlig klar, dass in einer solchen Lage Schiffe die Gegend meiden und falls sie sich entschließen sollten, doch diese Gewässer zu befahren, mit Versicherungsprämien konfrontiert wären, die astronomisch sind.
Kürzlich schlug ein ehemaliger US-Admiral in der Washington Post vor, die NATO könne Schiffe aus Odessa eskortieren (um sie vor russischen Kriegsschiffen zu schützen, vor denen die Ukraine Angst hat, da sie der Versicherung auf freies Geleit nicht traut.)
Aber auch eine solche Aktion löste weder das Minenproblem, noch das Problem der Bezahlung von Getreidelieferungen aus Russland. Es löst auch nicht das Problem der Düngemittellieferungen.
So kommt eins zum anderen.
Tatsächlich hat niemand eine weiße Weste: Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die westliche Sanktionspolitik gegen Russland und Weißrussland verschärfen gleichermaßen die üble Ernährungslage in Afrika und darüber hinaus.
Bangladesch beispielsweise fürchtet, vom Westen sanktioniert zu werden, wenn es russisches Öl und russischen Weizen kaufen würde und blickt neidvoll auf das große Indien, das sich das „leisten“ kann.
Hinzu kommt, dass es nach dem Ende der COVID-Restriktionen bereits zu einem Preisauftrieb kam, da das Angebot nicht der Nachfrage standhalten konnte.
Die Weltbank (und die ist nun wirklich völlig unverdächtig, russischer Propaganda zu erliegen) war in dieser Frage bereits im April 2022 ganz eindeutig. https://openknowledge.worldbank.org/bitstream/handle/10986/37223/CMO-April-2022.pdf
Das Argument der EU, Nahrungsmittelexporte seien nicht von den Sanktionen betroffen, ist deshalb entweder von absoluten Laien in die Welt gesetzt worden oder eine boshafte Täuschung oder alles zusammen.
Zur Haltung der Afrikanischen Union
Weil sich offenbar die Afrikanische Union stärker der Komplexität der Fragen bewusst ist, als etwa deutsche Medien (oder Politiker), kam es zum folgenden öffentlichen Statement ihres Präsidenten in Sotschi. Es ist meisterlich formuliert, aber nicht unbedingt Musik in westlichen Ohren (deshalb zitierten Medien nur eine Twittermeldung), obwohl der Präsident sehr elegant Russland an dessen globale Verantwortung erinnerte:
„Russland hat in der Tat eine große Rolle bei der Unabhängigkeit des afrikanischen Kontinents gespielt, die der afrikanische Kontinent niemals vergessen wird, und im Namen dieser Freundschaft bin ich auch hier.
Wir setzen große Hoffnungen in unsere Zusammenarbeit, einschließlich der bilateralen Zusammenarbeit zwischen Russland und dem afrikanischen Kontinent, aber wir sind heute auch hier, um über die Krise und ihre Folgen zu sprechen.
Wie Sie wissen, haben eine Reihe von Ländern für Resolutionen innerhalb der Vereinten Nationen gestimmt, und es sei darauf hingewiesen, dass die Position des afrikanischen Kontinents sehr unterschiedlich ist und viele Länder die Position Russlands trotz großen Drucks immer noch nicht verurteilt haben.Sie können auch nach Asien, in den Nahen Osten, nach Lateinamerika schauen – wir sehen, dass die Welt insgesamt die Entwicklung der Situation sehr genau verfolgt. Ich habe wirklich große Hoffnungen, und ich bin heute hierhergekommen, um Ihnen zu sagen, dass Länder, die so weit von dem Ort entfernt sind, an dem sich der Konflikt entwickelt, dennoch seine Folgen zu spüren bekommen.
Sanktionen gegen Russland haben diese Situation weiter verschärft, und jetzt haben wir keinen Zugang mehr zu Getreide aus Russland, insbesondere zu Weizen aus Russland. Und vor allem haben wir keinen Zugang zu Düngemitteln, weil die Situation schon schwierig war und jetzt noch schwerer ist und das Folgen für die Ernährungssicherheit in Afrika hat.
Heute Morgen habe ich buchstäblich mit meinem Kollegen von der Kommission der Afrikanischen Union gesprochen und ihm gesagt, dass es zwei Hauptprobleme gibt – die Krise und die Sanktionen. Genau diese beiden Probleme müssen wir gemeinsam lösen, damit Lebensmittel, insbesondere Getreide und Düngemittel von den Sanktionen ausgenommen werden.“
(Quelle: offizielle Website des Kremls; übersetzt mit google)
Unter diesen Bedingungen frage ich: Wie tief werden wir noch sinken im Bestreben, alles als alleinige Schuld Putins hinzustellen?
Den Aposteln von „Siegfrieden“ sei gesagt: Hungernde und verhungernde Menschen in Afrika (Asien, Lateinamerika) sind genauso real wie tote und flüchtende Ukrainer und es sind sogar mehr.
Aber was kann man erwarten von Leuten, die nicht sehen wollen, was steigende Energie-, Lebensmittel- und Düngemittelpreise in den eigenen Ländern anrichten?
Die billigend in Kauf nahmen, dass sich die Ukraine selbst verzehrte und nun plötzlich den ukrainischen Freiheitskampf wiederentdecken; die ganz selbstverständlich vor sich hinplappern, dass der Wiederaufbau der Ukraine zig Milliarden kosten wird, den unversöhnlichen Ideologen Brzezinski bewundern und vollständig vergessen, dass dessen Buch ganz klar beschrieb, worum es ihm immer ging: „Amerika, die einzige Weltmacht“.
(ab Minute 1:40)
Na, wenn schon, die Völker werden so doppelt und dreifach bezahlen: Erst für die Sprache der Waffen und dann für die Geschäftemacher, die den Wiederaufbau „in die Hand“ nehmen und so auch ihren Reibach machen. Anders ausgedrückt: Krieg ist ein schmutziges Geschäft.
https://de.wikipedia.org/wiki/War_Is_a_Racket
Warum hören wir nicht zu, was die Afrikanische Union zu sagen hat? Angeblich hat die EU doch nur hehre Interessen, wenn es um Afrika geht, während die Russen und die Chinesen selbstverständlich dort nur Übles im Sinn haben.
Warum zeigen wir nicht, dass westliche Politik auch der Diplomatie mächtig ist und nicht nur die Keule schwingt (Waffenlieferungen, Drohungen, Sanktionen), dass wir Werteverwirklichung in geretteten Menschenleben bemessen?
Während die Kriegsunterstützung zum Kampf Demokratie versus Autokratie stilisiert wird, wird sich aus der Verantwortung für das Leben, Leiden und Sterben anderer gestohlen.
Denn für solche Ideologen ist unsere heutige Welt ganz einfach: Ich gut-Du böse, nur ein „Schachbrett“, geteilt in Schwarz und Weiß.
So pfuschen sie selbstgerecht am unendlich komplizierten Organismus der Menschheitsfamilie herum und haben nicht den blassesten Schimmer, was sie anrichten.
Hauptsache Krieg.
Auch China ist schon gesetzt.
Danke für die faktenreiche Zusammenfassung der Hungerkrise. Der Ökonom Michael Hudson sieht in deren Herbeiführung durch die Sanktionen sogar die gezielte Absicht, Erpressungspotential zu bekommen und argumentiert: "These consequences must be deemed intentional if the consequences are quite obvious." (https://michael-hudson.com/2022/06/is-us-nato-with-wef-help-pushing-for-a-global-south-famine/)
Zu Ihrer Bemerkung "Es würde an dieser Stelle zu weit führen, wie es im Einzelnen dazu kam, dass Afrika seine eigene Ernährungsbasis verlor" würden mich Literaturempfehlungen interessieren.
Ich fürchte, die Vordenker der Eskalation wissen durchaus, was sie tun. Sie nehmen es billigend in Kauf oder stilisieren es - wie Madelaine Albright - zum notwendigen Opfer, das gebracht werden muss, um den Guten zum Sieg zu verhelfen.