"Erinnert Euch Eures Menschseins und vergesst den Rest"
Zum 70. Jahrestag der Veröffentlichung des Russel-Einstein-Manifests
Heute, vor 70 Jahren, am 9.7. 1955, wurde in London das Russell-Einstein-Manifest veröffentlicht.
https://www.atomwaffena-z.info/fileadmin/user_upload/pdf/russell_einstein_manif.pdf
Es ist ein Plädoyer für Frieden und für die friedliche Streitbeilegung aller Konflikte.
„Erinnert Euch Eures Menschseins und vergesst den Rest“, schrieben die Verfasser, denen nur zu gut bewusst war, dass die Menschheit im Atomzeitalter längst am Scheideweg stand: gemeinsam überleben oder gemeinsam untergehen?
Sie mahnten, im Einklang mit der UN-Charta, alle Konflikte, wie tief sie auch sein mögen, friedlich zu lösen.
Die Unterzeichner dieses Manifests wussten damals schon, dass die Angriffe auf Hiroshima und Nagasaki, die sich 2025 ebenfalls zum achtzigsten Mal jähren, „nur“ ein kleiner Vorgeschmack dessen gewesen sein würden, was die modernen Wasserstoffbomben anrichten können.
Noch aber wussten sie nichts vom nuklearen Winter. Erst 1983 fanden Wissenschaftler der Sowjetunion und der USA heraus, dass sich bei einem massiven Einsatz von Nuklearwaffen Dunkelheit, Kälte und Trockenheit einstellen können, verursacht durch die Folgen riesiger Feuerstürme, die die Grenzen von allem übersteigen würden, was Menschen in Kriegen bisher erlitten bzw. mit Kriegswirkungen verbinden.
Einer der Unterzeichner des Manifests, Joseph Rotblat, und daran erinnerte eine Veranstaltung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) 2005 anlässlich des 50. Jahrestags des Manifests, forderte: “Um die Zukunft der Menschheit zu sichern, müssen wir nicht nur die Instrumente der Kriegsführung vernichten, sondern den Krieg selbst.“ Dieser Forderung schloss sich die DPG uneingeschränkt an.
https://www.dpg-physik.de/veroeffentlichungen/aktuell/2005/dpg-pm-2005-020
20 Jahre später organisierte die DPG erneut ein Symposium in Berlin, das ausgebucht ist. Es dient der Aussprache, um die Gefahren abzuschätzen, die „aufgrund der Entwicklung der Massenvernichtungsmittel entstanden sind“. Rotblat wird im Einladungstext nicht mehr erwähnt. Wohl aber, dass Lehren des Kalten Krieges anscheinend in Vergessenheit geraten, dass ein nuklearer Rüstungswettlauf, die Entwicklung neuer Technologien, Trägersysteme und künstlicher Intelligenz der Einhegung bedürfen.
https://www.dpg-physik.de/veranstaltungen/2025/berlin-symposium-rem-2025-07-09
Mit von der Partie ist auch Brigadegeneral a.D. Helmut Ganser, der sich in der Vergangenheit öffentlich für die Wiederbelebung der Harmel-Doktrin aussprach, also für eine Mischung aus konsequenter nuklearer Abschreckung, konventioneller Verteidigungsbereitschaft verbunden mit einer Politik der Entspannung. Für Ganser ist der Kalte Krieg (2.0) zurückgekehrt, der gegenüber Russland so geführt werden sollte, dass er nicht in einen heißen Krieg umschlägt. Er gab dazu der ZEIT ein sehr interessantes Interview.
Zum Zeitpunkt der Entstehung der Harmel-Doktrin (1966/67) war die Weiterexistenz der Nato in Frage gestellt. Die Kuba-Krise, der Rückzug Frankreichs aus der Nato, de Gaulles Bereitschaft zur friedlichen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, die international immer isolierter werdende Deutschlandpolitik der alten Bundesrepublik und der Vietnam-Krieg der USA, der sie innen-und außenpolitisch beschädigte, waren nicht ohne Folgen geblieben. Zudem hatte die Sowjetunion für „friedliche Koexistenz“ geworben.
Um nach 1969 weiterzubestehen, musste die Allianz nach einem Überlebenskonzept suchen.
https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1992_2_2_haftendorn.pdf
Sie fand es im Gleichgewicht zwischen Abschreckung und Entspannung. Damals wurde ausdrücklich festgehalten, dass die Lösung der deutschen Frage für die Überwindung der europäischen Spaltung zentral sei.
https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_26700.htm
Die Grundlage für diese Nato-Positionierung lieferten Berichte, die eine Gruppe um den damaligen belgischen Außenminister Pierre Harmel erarbeitet hatte.
https://www.bits.de/NRANEU/nato-strategy/Harmel_Report_complete.pdf
Laut Lawrence Kaplan, der einen Beitrag zum 40. Jahrestag des Hamel-Berichtes schrieb, führte der neue Kurs der Nato schlussendlich zum Ende des Kalten Krieges.
Mit der Harmel-Doktrin und der von der Sowjetunion ausgehenden Politik der „friedlichen Koexistenz“ nach dem Ende der Stalin-Ära sind positive Schritte in der Entspannung im Ost-West-Verhältnis verbunden: Abrüstungsvereinbarungen, die KSZE-Konferenz von Helsinki.
Aber all das verhinderte nicht, dass sich das Ost-West-Verhältnis Ende der 70er Jahre wieder verschlechterte und beide Seiten voneinander vermuteten, einen nuklearen Erstschlag zu planen. Im September 1983 wäre es beinahe zur atomaren Katastrophe gekommen. Die russischen Alarmanlagen hatten eine Fehlfunktion. Dem sowjetischen Oberstleutnant Stanislaw Petrow ist es zu danken, dass die Welt nicht in den nuklearen Untergang stürzte.
Der Öffentlichkeit wurde dies aber erst sehr viel später bekannt.
Im gleichen Jahr führte die Nato mit dem Manöver „Able Archer“ eine Simulation durch, wie ein russischer Angriff auf die Nato beantwortet werden sollte. Später räumte Nixon in seinen Memoiren ein, niemand sei sich damals bewusst gewesen, wie sehr sich die Sowjetunion vor einem atomaren Erstschlag der USA gefürchtet hätte.
Es ist bis heute nicht völlig klar, wie nahe die Welt durch "Able Archer 83“ an den Rand der nuklearen Auslöschung kam.
https://nsarchive.gwu.edu/sites/default/files/documents/20485671/4-pfiab-report-2012-0238-mr.pdf
Eine ausführliche US-Untersuchung der spannungsgeladenen Jahre 1983 bis 1985, die im Jahr 1990 stattfand und durch das „National Security Archive“ 2021 veröffentlicht wurde, kam zum Schluss, dass es sehr wichtig sei, dass künftige sowjetische Handlungen durch Washington nicht falsch eingeschätzt würden (S. 94).
https://nsarchive.gwu.edu/sites/default/files/documents/20485671/4-pfiab-report-2012-0238-mr.pdf
Eindeutig ist, dass es in der ersten Hälfte der 80er Jahre eine Zeit wechselseitiger Vorwürfe und Verdächtigungen gab, die politischen Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion auf dem Nullpunkt angelangt waren, und das Risiko von Fehleinschätzungen enorm hoch war.
Heute ist das nicht grundlegend anders, nur mit dem Unterschied, dass uns seit Jahren einerseits versichert wird, dass das offizielle Moskau lügt, wenn es nur den Mund aufmacht, und andererseits aus jeder russischen Stellungnahme genau das herauslesen wird, was man herauslesen will, notfalls unter Verdrehung von Fakten.
Aber gehen wir noch einmal zurück in das Jahr 1967, doch diesmal nicht zu Pierre Harmel, sondern zu Robert McNamara, dem damaligen US-Verteidigungsminister.
Denn zu dem führt die Spur, wenn man fragt, wer den ABM-Vertrag angestoßen hat.
Noch vor Verabschiedung des Harmel-Berichts im Dezember 1967 war McNamara - und er machte sich nicht beliebt damit - ein entschiedener Gegner eines atomaren Abwehrschilds der USA und gleichzeitig ein Protagonist von Abrüstungsschritten zwischen den USA und der Sowjetunion. Gleichzeitig war McNamara ein vehementer Verfechter der nuklearen Abschreckung.
Als er die Möglichkeit eines Verzichts beider Seiten auf ein Abwehrschild zum ersten Mal gegenüber Kossygin, dem damaligen sowjetischen Ministerpräsidenten, aufwarf, glaubte Kossygin ihm nicht. Der hielt McNamara vor, alles nur ökonomisch zu sehen: Abwehrschilde seien teurer als Angriffswaffen. Aber beide, McNamara und Kossygin, stimmten überein, dass der nukleare Rüstungswettlauf zwischen den USA und der Sowjetunion längst „jenseits der Vernunft“ angelangt war.
https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1964-68v14/d231
Nach dieser Begegnung mit Kossygin hielt McNamara eine große Rede in San Francisco im September 1967. Gleichzeit legte er seine Position sehr ausführlich vor dem US-Kongress dar.
https://www.cia.gov/readingroom/docs/CIA-RDP70B00338R000300100105-8.pdf
Darin erklärte er ohne Umschweife das Konzept der nuklearen Abschreckung. Es müsse glaubwürdig sein, so dass ein Angreifer weiß, dass er sich selbst umbringt, wenn er zuschlägt.
Das gelte für beide Seiten. So, wie für beide Seiten gelte, dass keine einen nuklearen Schlagabtausch überlebe. Das limitiere den Wunsch nach einer nuklearen Auseinandersetzung. Deshalb müsse das Atomwaffenarsenal durch konventionelle Rüstung ergänzt werden. Er erklärte gleichzeitig, dass ein Nuklearkrieg im nuklearen Holocaust endet, den kein politisch Verantwortlicher bei Verstand wünschen könne. Er sprach sich gegen Abwehrschirme aus. Nicht aus Kostengründen, sondern weil sie nichts taugen. Sie sind immer überwindbar. (Anmerkung: zuletzt nachgewiesen in Israel, dessen Iron Dome den iranischen Vergeltungsschlägen nicht standhielt).
Er erklärte, sowohl die Sowjetunion als auch die USA hätten schon viel zu viel Nuklearwaffen angehäuft, sehr viel mehr, als zur Abschreckung nötig sei. Dann aber fielen Sätze von McNamara, die an J.F. Kennedy erinnerten. Er fand es weise, Kriege zu verhindern, aber das sei in der Vergangenheit viel zu häufig von der Torheit überlagert worden, Kriege zu führen. McNamara sagte, schlussendlich liege die Sicherheit von Menschen nicht in den Waffen, sondern in der Nutzung ihres Verstands. Es sei höchste Zeit, den Weg dahin zu beschreiten.
1972 wurde der ABM-Vertrag abgeschlossen. Beide Seiten, die USA und die Sowjetunion, verzichteten auf den großflächigen Aufbau eines Raketenabwehrschilds.
Gleichzeitig versicherten sich beide Seiten, bei der frühestmöglichen Gelegenheit, die Atomwaffen nicht nur substantiell zu reduzieren, sondern völlig abzuschaffen.
Der Harmel-Bericht gibt Auskunft darüber, was die frühestmögliche Gelegenheit war: die endgültige Lösung der deutschen Frage und der Aufbau eines europäischen Sicherheitssystems, das die Interessen aller Beteiligten respektiert.
Das ist im Zuge der deutschen Einheit bzw. in den Jahren danach nicht geschehen. Die Ursachen dafür liegen nicht bei der Sowjetunion bzw. ihrem Rechtsnachfolger Russland. Sie sind bei der Nato zu suchen und dem alles überwölbenden Anspruch der USA, nunmehr als einzig verbliebene Supermacht die Welt nach ihrem Bild zu ordnen. Dieser Anspruch fusste nie auf der souveränen Gleichheit aller, nie auf Partnerschaft. Eine Macht, die sich, und nur sich allein für „unverzichtbar“ erklärt, braucht Knechte, Vasallen, Gefolgsleute, wie immer man es nennen mag. Denn nur die sind womöglich bereit, für den „Unverzichtbaren“ verzichtbar zu sein oder zu werden.
Es mag dem einen oder anderen schon mutig erscheinen, heutzutage die Harmel-Doktrin wieder zu bemühen, um die tiefe Konfrontation mit Russland wenigstens durch ein Mindestmaß an Diplomatie zu ergänzen. Aber ist es nicht vielmehr so, dass sie versagte, in dem Augenblick, als die historische Möglichkeit tatsächlich bestand, die europäische bzw. die transatlantischer Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok zu gestalten, auf Atomwaffen zu verzichten und ein ganz neues Kapitel aufzuschlagen, dem Kalten Krieg auf immer zu entkommen?
Falin warnte 1990 Gorbatschow vor den Rankünen der USA. Gorbatschow hielt damals dagegen. Er glaubte an die Macht der Diplomatie und an politische Versprechungen.
Heute gehört es zum Nato-Narrativ, dass es keine Versprechungen gab, nichts schriftlich fixiert wurde, die Sowjetunion ohnehin am Ende war. Die Sieger schreiben die Geschichte und suhlen sich im vermeintlichen Sieg, den sie nie errangen. Der „real existierende Sozialismus“ ging an sich selbst zugrunde, an all jenen, die ihn nicht mehr ertrugen und nach Demokratie und Freiheit lechzten.
Aber selbst, wenn man sich dem Siegernarrativ anschließt, selbst, wenn man glaubt, ein paar deutsche Milliarden hätten Gorbatschow die Sicherheitsinteressen seines Landes abgekauft, selbst wenn man glaubt, der Verlierer der damaligen systematischen Konfrontation müsste die Niederlage schlucken, ja selbst, wenn man glaubt, die Polen, die Tschechen und alle übrigen hätten frei die Nato gewählt, um allen historischen Schrecken aus dem Osten zu entkommen, ja selbst, wenn man glaubt, die damaligen Gegner einer erneuten militärischen Spaltung Europas seien nichts als frühzeitige Kreml-Sprachrohre gewesen, bleibt immer noch die Frage, wieso es die USA waren, die 1994 die ausdrückliche Bereitschaft zum Einsatz des Militärs zur Verfolgung politischer Interessen fixierte, notfalls auch im Alleingang. Es bleibt immer noch wahr, dass sich die USA mit der Aufkündigung des ABM-Vertrags aus dem politischen Versprechen lösten, eine kernwaffenfreie Welt zu erreichen. Es war Putin, der sich dagegenstemmte. Vergeblich.
Aber, und auch das hatte McNamara 1967 erkannt: Nichts, was geschieht, bleibt folgenlos.
So wurden in Europa ab 1990/1991 wieder „Seiten“ geschaffen. Die „andere“ Seite war die Sowjetunion, später Russland. So blieb der geschichtliche Feind gesetzt, über die deutsche Einigung hinaus.
Man möge nicht erklären, wir hätten doch alles versucht.
Nichts, weder in den Vereinbarungen mit Russland oder im Umgang mit diesem Land war je davon geprägt, dass wir dem Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten auch nur Beachtung schenkten. Eine Siegermentalität schließt das genauso aus wie eine Zwergenmentalität.
Wenn wir Deutsche die US-Führung anerkannten und sich dieser unterwarfen, wer war dann dieses Russland, dass es dies ablehnte?
Das ist keine russische Extravaganz. Schon Gorbatschow sucht nach Partnerschaft auf Augenhöhe. Darin war er damals beileibe nicht allein in Mittel- und Osteuropa.
Kann man dem Wort des Westens trauen?
Ist dem Westen zu trauen?
Haben wir womöglich ein Vertrauenswürdigkeitsproblem?
Das ist eine Frage, die sich inzwischen durch die Jahrzehnte zieht.
Die umgekehrte Frage lautet, wie die Intentionen unserer vermeintlichen Gegner tatsächlich sind, und ob wir Schlawiner das überhaupt richtig einschätzen können.
Wer selber lügt, kann nicht an die Aufrichtigkeit anderer glauben.
Auch das müssen wir ändern. Um des Friedens, um unserer Sicherheit willen.
Wird uns Russland angreifen? Dann, wenn es mit der „Ukraine „fertig“ ist?
Es gibt keine russischen politischen Erklärungen, die darauf hindeuten. Aber man weiß ja nie.
Das Szenario impliziert: Russland werde mit der Ukraine „fertig“, etwas, was 2022 als völlig abwegig dargestellt wurde und in Teilen auch noch bis heute postuliert wird.
Doch schon Obama wusste: In der Ukraine hat Russland das Eskalationspotential. Auch die USA unter Biden wussten das von Anbeginn. Aber was machten sie mit diesem Wissen?
Sie ermutigten, ja verordneten der Ukraine weiter zu kämpfen.
Man muss an dieser Stelle einwenden, dass militärische Macht, ein Aggressor, nicht belohnt werden darf. Mit diesem Grundsatz bin ich völlig einverstanden. Aggression darf nicht belohnt werden. Gäbe es nur nicht die unzähligen Beispiele westlicher Aggression, gäbe es nicht diese „Drecksarbeit“, der Respekt gezollt wird.
Darf man prinzipiell in der Ablehnung einer Aggression soweit gehen, einen möglichen Frieden zu unterminieren? Ein verhandelter Frieden war im Frühling 2022 zwischen Russland und der Ukraine möglich. Gescheitert ist er nicht an Russland.
Tatsache ist, dass sich damals der Westen der Kriegsverlängerung schuldig machte.
Denn es ging ihm nie um die Ukraine. Es ging darum, die russische Entscheidung zum Krieg nunmehr zum historischen Fallbeil zu machen, mit dem die „strategische Niederlage" Russlands vollendet werden sollte.
Selenskyj war am 27. März 2022 ganz deutlich, wie er bestimmte Interessenlagen im Westen sah: „Everyone has varied interests. There are those in the West who don’t mind a long war because it would mean exhausting Russia, even if this means the demise of Ukraine and comes at the cost of Ukrainian lives. This is definitely in the interests of some countries.“
https://www.economist.com/europe/2022/03/27/volodymyr-zelensky-in-his-own-words
Auch wenn der ukrainische Präsident sich damals drehte und wendete, Aussagen wie diese belegen, dass er im Frühling 2022 zumindest fürchtete, die Ukraine werde im Stellvertreterkrieg verbluten.
Heute würde man eine derartige Äußerung von Selenskyj wahrscheinlich zur russischen Propaganda erklären. Und doch, es hat sie gegeben.
Dann aber schlüpfte er in die ihm verordnete Rolle des unerbittlichen Feldherrn, der sich inzwischen an der Spitze europäischer Kampftruppen wähnt und gegen Russland siegt.
Der Traum zerplatzte, so wie auch der von der „hell erleuchteten Brücke“, die laut Blinken zu einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine führen würde. Die Lampen sind gelöscht.
Und was machen wir?
Wir treiben die Ukraine weiter ins Schlachtfest hinein.
Wir begründen das mit hehren Prinzipien, oder wie der ehemalige BND-Chef Bruno Kahl auch damit, dass dies die unvermeidliche russische Aggression gegen uns verlangsame.
In deutschen Medien gibt es jede Menge Vorhersagen, wie sich die russische Aggressivität „nach der Ukraine“ weiter entfalten würde: Ein Test der Nato-Bündnisfähigkeit, womöglich in Estland? Womöglich schon im Herbst 2025?
Nun hat der Nato-Generalsekretär gleich drei Versionen ins Spiel gebracht: Erstens seien die USA, nicht Norwegen, das ultimative militärische Ziel Russlands. Deshalb müssen der Atlantik, die Arktis und Europa gesichert werden.
Zweitens kommt es in Estland zum Test für den Nato-Bündnisfall. In fünf bis sieben Jahren. Sofern wir nicht die Russen abschrecken können.
Drittens wird China Taiwan angreifen, aber nicht bevor Xi in Moskau bei Wladimir Wladimirowitsch Putin anrief, um dem „Juniorpartner“ Chinas, also Russland, klarzumachen, er werde gebraucht, um die europäischen Nato-Verbündeten der USA „beschäftigt“ zu halten.
https://www.nytimes.com/2025/07/05/magazine/mark-rutte-interview.html
Das ist ganz eindeutig ein Fall von Clairevoyance und gleichzeitig ein Offenbarungseid. Im westlichen Konzept gibt es immer einen Chef, immer einen/ viele „Juniorpartner“.
Aber immerhin marschiert Russland in der Rutte-Version dann doch nicht nach Berlin, und auch um Norwegen wird es einen großen Bogen schlagen. Wer hätte das gedacht? Wenn dann noch die hocheffizienten westlichen Geheimdienste mit Cyberattacken alle Telefonate zwischen Xi und Putin stören…
Wer früheren Erklärungen zur Kriegsfähigkeit Russlands lauschte, wurde belehrt, dass die Russen, weil sie nichts anderes mehr haben, nur noch mit Schaufeln Krieg führen, mit Waffen, die von Chips gesteuert werden, die aus westlichen Waschmaschinen ausgebaut werden mussten. Und dass die russische Armee eine komplett demoralisierte und verwahrlosten Truppe ist, die keine Ahnung davon hat, wie man „richtig“ Krieg führt.
Ich vergaß, das war gestern. Inzwischen lautet die Mär, kenne die Aggressivität des Russen (und dessen militärischen Potentials) schlicht keine Grenzen mehr. Hinterhältig und wütend, so wie dieser Russe nun mal ist, entmilitarisiert er nicht nur die Ukraine, sondern die Nato gleich mit, die ultimative Vernichtung der USA immer vor dem bösen inneren Auge.
Damit wir nicht bald alle Russisch sprechen (Rutte), müssen wir also nun aufrüsten, statt in Bildung und Gesundheit zu investieren oder die Werke zu tun, die man gemeinhin mit sozialer Gerechtigkeit in Verbindung bringt. Wegen der aggressiven Russen. Deshalb müssen wir nun US-Mittelstreckenraketen, die nuklear bestückt sein werden, bei uns stationieren lassen, die Bevölkerung unter Tage bringen, unsere Brücken verminen und hassen, hassen, hassen….
Immer sind es die Russen, die uns zu dem zwingen, was wir nun tun müssen.
Wir wollen nicht hochrüsten. Wir müssen es. Wegen des russischen Bären.
Wir dachten, wir könnten ihn zum Tanzbär dressieren. Wie im Zirkus. Wir dachten, wir sind berufen sind, zu bestimmen.
Auch der Plan ging nicht auf.
Wer erinnert sich noch daran, dass es Anfang März 2022 hieß, Putin drohe mit dem Einsatz von Nuklearwaffen. Die Deutsche Welle fragte: Wie ernst ist die Lage? Genaues wusste keiner.
https://www.dw.com/de/wladimir-putins-atomdrohung-wie-ernst-ist-die-lage-wirklich/a-60973058
So ging unter, dass die Nato am 25.02. 2022 ihre Verteidigungspläne aktiviert hatte, was zu Truppenbewegungen Richtung Osten führte. Damals, da war der Krieg nur einen Tag alt, war die Nato sich einig: Sie hatte alles getan, was man nur tun konnte, nun war die Zeit für die ultimative Bestrafung Russlands gekommen.
https://nato.diplo.de/nato-de/01-natostatements/2513886-2513886.
Die sich so aufs hohe Ross schwangen, Ankläger, Richter und Urteilsvollstrecker wurden, hatten genug eigene Sünden auf dem Buckel, an die allerdings jede Erinnerung fehlt, weil sie sich selbst vergeben.
Leser von Orwell wird kaum überraschen, wie problemlos und perfide im öffentlichen Gedächtnis herumgemurkst wird. Wer ist besser, die Zweibeiner oder doch die Vierbeiner?
Insofern muss man schon dankbar sein, dass unsere Hauptfeinde immer die gleichen bleiben. Mehr noch, in den Augen des „Philosophen" Peter Sloterdijk erleben wir nachgerade einen geschichtlich fast glücklichen, schicksalhaften Moment: „Wir haben wieder Feinde. Echte Feinde….“
https://das-blaettchen.de/2025/07/antworten-533-72173.html
So wie Mike Morrell, ehemals stellvertretender CIA-Direktor, 2016 öffentlich davon träumte, Russen zu töten, damals als Vergeltung ihres Beistandes für Assad, gibt es auch heute Menschen, denen tote Russen Wonneschauer über den Rücken jagen. Je mehr, desto besser. Die wollen garnicht wissen, wie viele ukrainische Soldaten bereits ihr Leben ließen oder auf immer fürs Leben gezeichnet sind. Die kennen weder Mitleid mit israelischen Soldaten, die Selbstmord begehen, weil sie den Schrecken nicht mehr aus ihrem Kopf bekommen, noch Erbarmen mit den Kindern und Frauen in Gaza.
Auch das ist harte Realität. Die übersteigt längst fast alles, was dystopische Geschichtenerzähler an die Wand malten.
So sind wir wieder zurückgeworfen auf die eigentliche Frage im Russell-Einstein-Manifest: Was ist Menschlichkeit? Was ist ein Mensch?
Wann werden wir je in Sicherheit sein? Ganz sicher nicht mit der Harmel-Doktrin. Ganz sicher nicht mit neuen atomwaffenfähigen Mittelstreckenraketen auf deutschem Territorium.
Wer den Krieg nicht sucht, sondern fürchtet, weiß, wie er beendet werden kann, weiß, dass er beendet werden muss. Man muss die Ursachen beseitigen, die Wurzeln kappen.
Darin lägen Ehre, Gewissen, Vernunft, Zukunft.
An dem Punkt treffen sich Russell, Einstein & Co. und McNamara:
Wir sind Menschen.
Wir können uns bewusst dafür entscheiden, was uns gemäß ist. Wie wir leben wollen, und ob es nach uns noch Menschen gibt, die zur Erinnerung fähig sind, ohne daran zugrunde zu gehen.
Vielleicht hat die Evolution es so gewollt, dass der Blick auf unsere engsten tierischen Verwandten, denen Verstand nicht mitgegeben wurde, wohl aber sehr viel Liebe und Fürsorge für die eigene Art (oder auch für uns), uns bei dieser Entscheidung helfen kann. Auch wir sollen einander brüderlich begegnen, als unveräußerliches Menschenrecht.
Damit das Leben bleibt. Nicht nur unseres, auch die ganze lebendige Erde.
Vielleicht ist es das, was die Suche nach dem Sinn des Lebens ausmacht.
Vielleicht, weil Menschen dazu bestimmt sind - von Gott oder der Natur - nicht vergänglich sein zu wollen.
Weil die allermeisten Menschen auf dieser Welt ein inneres Band spüren mit allem, auch wenn wir es nicht fassen können.
Kurzer Hinweis: Die Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki jähren sich 2025 zum 80. Mal.
Danke, Petra Erler, für die wie immer fundierten und gut belegten Ausführungen. Nur hat der Einsatz für das Menschsein derzeit keine Chance in Deutschland. Wie löst man das Fest verankerte Feindbild des ultimativen Bösen in Person von Putin auf? Gibt es dazu Ideen, Strategien, positive Erfahrungen?
Danke auch, Jana Weinert für den Kommentar. Was sind die Interessen? Ich tippe am ehesten auf wirtschaftliche Interessen, weil Habgier und Neid Todsünden der Menschheit sind. Gerade kann man täglich beobachten, wie die reichsten Menschen der Welt nicht genug bekommen können. Sie haben dafür ein System geschaffen: den Kapitalismus. Sein Schirmherr: die USA. Die sorgen mit militärisch abgesicherter Weltherrschaft dafür, dass seltene Erden aus der Ukraine und Erdöl aus Irak geplündert werden können. Die Bevölkerung der westlichen Länder profitiert auch davon, wäre aber im Grunde genommen viel solidarischer mit ihren Schwestern und Brüdern in den ausgebeuteten oder angeblich feindlichen Ländern. Darum müssen wir uns die politische Macht zurück holen und unsere gemeinsamen menschlichen Interessen in den Mittelpunkt stellen. Wo organisiert sich dieser Widerstand??