"Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stände da? Da stände, unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen."
(Christa Wolf: "Kassandra", 1983)
Kampf dem Hass, heißt es seit langem. In Deutschland wurde sogar ein Gesetz erlassen, was darunterfällt und strafbewehrt ist. Die sozialen Medien wurden aufgefordert, auf ihren Plattformen mit eisernem Besen dagegen vorzugehen. Und der Spiegel erklärte, woher dieser anschwellende Hass kommt – wegen der „Ratte“ in uns, die nach Aufmerksamkeit und Selbsterhöhung lechzt.
https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/psychologie-woher-der-hass-kommt-kolumne-a-1122055.html
Damals schrieb der Spiegel allerdings nicht, dass Verunsicherungen und Kränkungen diese Ratte befeuern, denn keiner ist verdammt, niederen animalischen Reflexen nachzugeben. Der Mensch hat ja schließlich evolutionär auch jede Menge Mitgefühl und ein angeborenes Bewusstsein für Gut und Böse mit ins Gepäck bekommen. Jeder weiß, wann er sich falsch verhält, jeder kennt den eigenen inneren Schweinehund, der sich manchmal einfach nicht bändigen lassen will. Nur Soziopathen fühlen dann keine Scham.
Was aber, wenn selektiver Hass plötzlich legitim wird, gesellschaftlich gewollt? Wenn Meinungsführer unsere innere Ratte regelrecht füttern? Wenn man das „Richtige“ hassen darf?
Julian Assange beispielsweise wurde über Jahre zu einem “legitimen” Hassobjekt gemacht. Über die Medien erfuhr jeder, der es hören wollte, scheinbar alles über diesen Mann, diesen mutmaßlichen Vergewaltiger und Narzissten, diesen paranoiden Scheinasylanten, diesen mit Russen paktierenden Möchtegernjournalisten, der mittels seiner Plattform die US-Wahlen manipulierte.
Als Assange sowohl der Laptop als auch der Zugang zum Internet entzogen wurden, mit der aberwitzigen Begründung, als Gast des Landes Ecuador müsse er seine Zunge im Zaume halten, hat es die Wenigsten gestört. Alles was danach geschah, auch nicht. Das ist bis heute so geblieben. Die breite Öffentlichkeit schreit nicht auf, dass dieser Mann ein Opfer derer ist, deren Verbrechen und Doppelzüngigkeit er bloßstellte.
Soviel Macht hat gezielte Rattenfütterung über uns.
Die russische Aggression gegen die Ukraine, die falsch ist, völkerrechtswidrig und zutiefst verurteilt werden muss, lässt nun die Rattenfütterer zu neuer Höchstform auflaufen. Die haben schon immer gewusst, wo das Böse haust und seit Jahren in allem die gemeinen Absichten des Kremls gesehen. Die russische Aggression erschreckt sie nicht, sie fühlen sich in ihrer Weltsicht bestätigt. Ab sofort darf Putin offiziell gehasst werden, ihm darf der Tod an den Hals gewünscht werden - das wird von sozialen Medien nicht mehr als Hassrede angesehen.
Es geht allerdings weit darüber hinaus. Es scheint nicht zu reichen, diesen Krieg „nur“ zu verdammen. Während die westliche Politik Sanktion auf Sanktion häuft, arbeiten kleine und große Rattenfütterer an unserer Wut, so als gäbe es kein Morgen, keine Einsicht, dass die Menschheit sich auch weiterhin diesen Planeten teilen wird und für seine Zukunft zu sorgen hat.
Ein gutes Beispiel lieferte ein Artikel im Freitag, für den das Blatt extra die Bezahlschranke aufmachte, damit wir alle nun über den Fall des russischen Eiskunstläufer Pluschenko grübeln dürfen. Kann man noch ein Fan von Jewgenij Pluschenko sein, fragte der Freitag.
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/sport-kann-man-noch-ein-fan-von-jewgenij-pluschenko-sein
Für die, die Pluschenko nicht kennen, nur soviel: Pluschenko war ein begnadeter russischer Eiskunstläufer. Aber er ist ein Freund Putins, wie man hört, und das bedeutet, dass man den nun nie wieder sehen kann, ohne „auf seinen Körper den Kopf von Putin montiert zu sehen“, so der Freitag.
Also schauen Sie genau hin, wie dieses neugeborene Zwitterwesen einst übers Eis tanzte. Was für eine hässliche Fratze der doch hat, rückwirkend betrachtet.
Aber wehe, Ihre Augen spielen Ihnen einen Streich: Noch immer wirbelt Pluschenko mit seiner Iwanuschka-Frisur übers Eis. Was sagt das über Sie? Das ist die subtile Frage des Artikels.
Natürlich erfolgt die Rattenfütterung in Gaben, hier ein Bröckchen in Form eines russischen Dirigenten, da ein Bröckchen in Form einer russischen Sängerin. Aber die Ratte ist ein Nimmersatt.
Also denken wir diese Rattenfütterung mal konsequent weiter, angesichts von allem, was inzwischen an Antirussischem auch hierzulande aufscheint und sich auch in Gewalt zu entladen beginnt.
Lieber Freitag: Wegen der ukrainischen Tragödie kann es ja nicht reichen, nunmehr nur Pluschenko angewidert ad acta zu legen. Was ist mit den Kommentatoren, die einstige Auftritte begeistert besprachen? Entschuldigen die sich jetzt? Fordern jetzt all die Zuschauer ihre Eintrittsgelder zurück, weil dieser russische janusköpfige Dämon sie täuschte, der doch vorgab, sie zu lieben?
Was ist überhaupt mit allen Russen?
Viele haben Putin gewählt. Vervielfachen sich jetzt die Häupter Putins ums millionenfache? Verdienen die jetzt alle unsere Verachtung oder gar den Tod, wie bestimmte US-Politiker im Fall von Putin meinen?
Reicht ein Boykott russischer Waren überhaupt aus?
Was ist mit all den Büchern in den Bibliotheken und Bücherschränken? Nur symbolisch Dostojewski oder Tolstoi zu entfernen, oder nicht mehr Tschaikowski oder Schostakowitsch aufzuführen, das ist doch eklektisch.
Müsste man nicht über Drastischeres nachdenken? Alle russischen Künstler schwupps auf den Scheiterhaufen der Geschichte? Aber was machen wir mit Gogol, was mit Repin, was mit Bulgakow, all diesem ukrainisch-russischen Mischmasch?
Darf ich Jewtuschenkos Werk noch lieben? Der hat über Babi Jar geschrieben, aber auch „Meinst Du die Russen wollen Krieg“. Ist das jetzt sowjetisch-russische Desinformation, mit langem Atem? Bin ich jetzt ein Kreml-Jünger?
Was ist mit all den Deutschen, die freiwillig in das Land des Putin-Terrors fuhren, über die Wolga schipperten, den Baikalsee besuchten, die Moskauer oder Petersburger Sehenswürdigkeiten erkundeten?
Was ist mit all jenen, auch mit mir, die an die deutsch-russische Aussöhnung glaubten und dafür etwas taten, und die seit Jahren vor der permanenten Anheizung des Ost-West-Konflikts warnten? Dürfen wir weiter frei rumlaufen, jetzt, im Angesicht von Putins Aggression?
Was ist mit dem Deutschen Bundestag, was mit der Münchner Sicherheitskonferenz. Da war Putin, dieser „Killer“, zu Gast.
Könnte man mit Brandzeichen arbeiten?
Ist es moralisch standfest, nach Maßstäben zu handeln, die sich soeben entdeckten?
Ist ein ehemaliger Bundeskanzler einer Ehre nicht mehr wert, weil er mit Putin befreundet ist? Steht der nun im Stall der trojanischen Kreml-Pferde? Schließlich sei der Gerhard nicht Hitler, argumentierte eine seiner Verflossenen öffentlichkeitswirksam und tränkte formal Korrektes mit Vergiftetem. Beschmutzt dessen Freundschaft nunmehr Hannover oder ganz Deutschland?
Und da ich schon einmal beim Sinnieren bin: Müsste man nicht die Geschichte selbst korrigieren, die Verbrechen der Deutschen an den Menschen der Sowjetunion vergessen machen?
Wie soll denn sonst unsere innere Ratte je so rosig groß und fett genug werden, dass sie ohne Schamesröte im Gesicht ein ganzes Volk verdammt, dem – wie anderen Völkern - Deutsche einst soviel Leid zufügten?
Die Ratte in uns wird uns nicht retten. Sie wird nicht die Ukraine retten. Sie wird nichts und niemanden retten.
Aber um Rettung geht es heute, gerade angesichts des Krieges in der Ukraine. Er muss beendet werden, zunächst um Leben zu retten, ukrainisches, russisches und um zu verhindern, dass das alles weiter eskaliert.
Wenn die Waffen in der Ukraine wieder schweigen, ist nur der erste Schritt eines langen Weges getan. Wir brauchen kühle Abrechnung, aber auch wirklich gemeinsamen Neubeginn.
Wer heute von „deutscher Verantwortung“ predigt, soll sagen, was er meint: Geht es darum, kriegstauglicher zu werden oder geht es um einen deutschen Beitrag zu einer Welt, die alle Kriege künftig ächtet und ihren Nährboden austrocknet.
Was aber spätestens der Ukrainekrieg warnend vor Augen führt und was wir verstehen müssen, trotz der Ratte in uns, trotz geteilten Entsetzens über den Krieg: Die Sprache der Konfrontation und der Waffen, die Rivalität von Atommächten ist kein Überlebensrezept. Entweder wir schaffen es, eine multipolar vernetzte, sichere Welt für alle zu errichten oder diese Welt bleibt nur den Bruchteil einer Sekunde, in der Unglücke geschehen, eine falsche Entscheidung getroffen werden könnte, von einer globalen Tragödie entfernt.
Jetzt schreibe ich doch einmal eine Verteidigung der Ratte, die ein äußerst soziales Tier ist und deren Gier keineswegs grenzenlos ist.;-))
Ratten tun alles, um eine andere Ratte aus einem engen Gefängnis zu befreien, sie verzichten sogar darauf, wenn sie Wahl haben zwischen einem Stück leckerer Schokolade in einem ebenso verschlossenen Behältnis und der Befreiung der anderen Ratte, sich zuerst die Schokolade zu sichern und dann den/die Kumpel/ine zu befreien. Nein, zuerst der Kumpel und dann gemeinsam die Schokolade.
Fragt sich, wer in diesem heutigen Szenario die eingeschlossene Ratte ist und wer die befreiende.
Darauf können die Sichten doch sehr unterschiedlich sein.
Manchmal braucht man in diesen Zeiten auch ein Augenzwinkern und grundsätzlich gibt es wohl kaum ein schlimmeres Tier als den Menschen.
Toll geschrieben. Danke für diesen Artikel. Das Dilemma ist, dass man sich "bedanken muss", heutzutage.
Ich habe den aktuellen Mainstream noch nie so gleichgeschaltet erlebt.