Wie Politik dem Krieg unterworfen wird
Russland, Ukraine, der Westen und keine Lösung in Sicht
Viele Macher und Kommentatoren unserer Zeit scheinen sich in einem Computerspiel zu wähnen: Die Söhne des Himmels und der Sonne gegen die Teufel aus dem Blutreich von Wasser und Schnee. Da wird geballert und gestorben, was das Zeug hält, während sie den Spielverlauf kommentieren und den Kriegern des Lichts immer neuen Waffen zuschieben, damit diese eine neue Runde erreichen, mit dem Restleben, das sie haben. Das lässt sich leider nicht zukaufen.
Der Suchtfaktor ist hoch, denn die Teufelskrieger sind auch im nächsten Level der ewige Gegner. Sonst wäre das Spiel -nüchtern betrachtet- am Ende, der Spaß vorbei.
Irritation aber schleicht sich trotzdem ein. Wieso sind die weiß-blau-roten Teufel immer noch da? Irgendwann muss der vernichtende Schlag doch gelingen…
Ihre ganze Kanzlerschaft, so erzählte Frau Merkel im März 2022 im Deutschen Theater, sei sie damit beschäftigt gewesen, auf die Konflikte, die aus dem Zerfallsprozess der Sowjetunion resultierten, zu reagieren.
Tatsächlich zerfiel in den Jahren 1989 bis 1991 die alte europäische Nachkriegsordnung, die durch den Kalten Krieg und die Systemrivalität geprägt war. In friedliche Revolutionen lösten sich Staaten aus dem einstigen Sowjetimperium, Jugoslawien zerfiel, die Sowjetunion wurde aufgelöst. Eine in Ansätzen vergleichbare Sicherheitsfrage stellte sich möglicherweise, global betrachtet, nur auf dem afrikanischen Kontinent, verursacht durch koloniale Grenzziehungen.
In den Jahren 89 bis 91 stellte sich die Frage, wie der europäische Kontinent auf die tiefen Veränderungen reagieren sollte. Es gab zwei wesentliche Optionen (es gab auch andere Ideen, wie etwa die von einem „Zwischeneuropa“): Den Bau eines gemeinsamen Europäischen Hauses oder die Dominanz der angemaßten Gewinner des Kalten Krieges?
Mit der Schlussakte von Paris, die auch eine ost-west-deutsche Handschrift trug, wurde sicherheitspolitisch die Option eines gemeinsamen Europäischen Hauses befürwortet. 1999 machte die OSZE den letzten Versuch, zum Treiber und Zentrum europäischer Sicherheit zu werden. Die Erklärung von Istanbul (Punkt 8) schrieb die Unteilbarkeit der Sicherheit fest. Das Recht auf freie Bündniswahl wurde genauso formuliert, wie die Pflicht, dieses Recht nicht auf Kosten der Sicherheit anderer auszuüben. Der Dominanz eines Blockes wurde eine Absage erteilt.
https://www.osce.org/files/f/documents/1/5/39571.pdf
In der politischen Realität aber wurden diese OSZE-Verpflichtungen durch die US-geführte NATO und ihre Erweiterungspolitik und zunehmend auch durch geopolitische Ambitionen der EU unterlaufen. Ein Artikel des Guardian aus dem Jahr 2013 erinnert an das politische Ziel der EU-Assoziierung der Ukraine. So sollte das Land aus der russischen Einflusssphäre herausgelöst werden:
„Ukraine has abruptly ditched its plans to sign a historic pact with the European Union aimed at shifting the country out of the Kremlin's orbit.”
https://www.theguardian.com/world/2013/nov/21/ukraine-suspends-preparations-eu-trade-pact
Dabei spielt, rückwirkend betrachtet, keine Rolle, ob die EU damals wusste, was sie tat, als sie die Ukraine vor die historische Wahl “Mit uns oder mit Russland?“ stellte.
(Es spricht viel dafür, dass die EU zu diesem Zeitpunkt die Folgen des US-Machtkampfes mit Russland nicht begriff).
Entscheidend ist, dass die kontinentale Friedens- und Sicherheitsstrategie einem Kampf um Einflusssphären wich, der sich in der Ukraine bündelte und das Land zerriss.
Wer das nicht versteht oder negiert, kann heute keinen Frieden schaffen.
Aber es geht nicht mehr um Frieden. Es geht um Krieg und Sieg und Niederlage, regime change, um das Ausbluten Russlands. Es geht um die absurde Idee, Russland die Mutter aller Niederlagen zuzufügen. So wie Trump die „Mutter aller Bomben“ auf Afghanistan abwarf.
Dass, was Russland lange Zeit dem Westen unterstellte, und was lange vom Westen als absurder Verfolgungswahn dargestellt wurde, ist heute politisches Ziel.
Nur zur Erinnerung: Nach den entsetzlichen Verbrechen des Nazi-Regimes hatten die Siegermächte einen ähnlichen Plan für Deutschland. Alle kriegswichtigen Industrien sollten zerschlagen und Deutschland zerstückelt werden. Dieses Ansinnen scheiterte im aufziehenden Kalten Krieg, in dem die deutschen Ressourcen für den westeuropäischen Wiederaufbau gebraucht wurden. Er scheiterte aber auch an der Uneinsichtigkeit der Deutschen, die die geplante Zerschlagung der deutschen industriellen Ressourcen (und damit den Verlust ihrer Arbeitsplätze) und ihre Mitschuld am Hitlerfaschismus für zwei verschiedene Paar Schuhe hielten.
Die europäische Integrationsidee brachte damals den Wendepunkt, und sie hat Deutschland und auf Jahrzehnte zumindest einen Teil des Kontinents verändert. Zum Besseren.
Die transatlantische Politik bleibt weiter im ersten Szenario gefangen und solange das so ist, verhallen die Mahnungen des UN-Generalsekretärs auf der letzten UN-Vollversammlung, für Verständigung zu sorgen, die von vielen Völkern auf die eine oder Weise wiederholt wurden, im Leeren.
Für den „Endsieg“ über Russland agiert der Westen mit äußerster Rücksichtslosigkeit, auch und nicht zuletzt gegenüber der eigenen Wirtschaft und der eigenen Bevölkerung. Nicht Russland, sondern die westlichen Wirtschaftssanktionen haben das wirtschaftliche Tischtuch mit Russland weitgehend zerschnitten.
Das Leitmotiv, aus der Pandemie gemeinsam besser herauszukommen, nachhaltiger, inklusiver zu werden („Build back better“), ist Schnee von gestern.
Schwerste Kollateralschäden der Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind regelrecht eingepreist, und jeder Widerstand gegen diesen Kurs gilt heute als rechts, ultrarechts, demokratiefeindlich.
Der Grad der Schädigung Deutschlands (und Europas) durch die Politikentscheidung der sogenannten „Zeitenwende“ ist noch nicht klar umrissen. Aber er geht weit über individuelle Betroffenheiten von sechzig Prozent der Bevölkerung hinaus (3.600 Euro monatlich oder weniger). Diese lebten, so der Deutsche Sparkassenverbund schon heute von Gehalt zu Gehalt und, falls vorhanden, von Angespartem. You will never walk alone?
Nun, die müssen es.
Die Rosskur der Bundesregierung, die in Übersee ausgetüftelt und in der EU mit großem Elan vollzogen wurde, erfasst Industrie und Landwirtschaft, kommunale Institutionen und Einrichtungen, die Kultur, das Handwerk und Einrichtungen des Gesundheitswesens. Was wird übrigbleiben, wer gewinnen, wer verlieren?
Es ist diese Sorge, die hinter dem Ruf steht, Nordstream 2 zu öffnen, um das Land zu entlasten. Und eine kleine Handwerkerschaft im Sachsen Anhaltinischen gehört zu den Rufern. Ihre Petition haben nur wenige unterschrieben.
https://www.openpetition.de/petition/online/nordstream-2-statt-gasumlage
Denn, wer so etwas denkt oder gar etwas sagt, wird verbal erschlagen. „Billiger Populismus“, der am „trüben rechten Rand fische“, heißt es. Russland habe sich nicht als verlässlicher Handelspartner erwiesen, siehe Nordstream 1.
https://www.mopo.de/im-norden/meck-pomm/oeffnung-von-nord-stream-2-das-ist-billiger-populismus/
So wird Debatte abgewürgt und Geschichte umgeschrieben, was an sich nichts Neues ist, würde das alles nicht begleitet von Kurzsichtigkeit, Geschichtsblindheit und globaler Verantwortungslosigkeit.
Die deutsche Regierung hat bis heute kein Ziel definiert, wie sich der angestrebte Sieg über Russland bemessen ließe. Sie formulierte keine Vorstellung, wie Deutschland über die nächsten Jahre kommen soll. Sie hat keinen Plan, wie der Weg zur gemeinsamen Lösung der die Menschheit betreffenden globalen Probleme beschritten werden könnte, auch mit Russland.
Man tut so, als wäre das aktuelle Problem das eines Winters und darauf folgten blühenden Landschaften in Deutschland und in der Ukraine. Die Russen sieht man isoliert im auftauenden Permafrost feststecken, so wie einstens die Römer im germanischen Schlamm.
Und den vielen bockigen Staaten, die auf der UN-Generalversammlung für Verständigung, Dialog und Verhandlungen warben, wird erklärt, dass das nicht geht. Denn das war ja der falsche Weg der Vergangenheit. Hätte man den Russen nur mehr Harke gezeigt, weniger „durchgehen“ lassen, ja dann…
So häuft sich Selbstbetrug auf Selbstbetrug, Lüge auf Lüge.
Die gleiche Logik wird gerade in Bezug auf eine weitere Kriegseskalation durch einen möglichen Einsatz von Massenvernichtungswaffen verwendet. Prinzipiell besteht kein Unterschied zwischen der russischen und der amerikanischen Sicherheitsstrategie. Keine Seite blufft. Aber beide Seiten versprachen sich 2021, dass ein Nuklearkrieg nicht gewonnen und daher auch nicht geführt werden darf.
Gilt das noch?
Oder gilt inzwischen das, was ein hochrangiger Mitarbeiter des ukrainischen Präsidenten laut Guardian sagte: Sollte Putin auch nur daran denken, Nuklearwaffen einzusetzen, sollte der Westen als erster zuschlagen.
In einem früheren Stadium des Krieges gegen die Ukraine, wurden jene, die vor einer nuklearen Kriegseskalation warnten, als unverbesserliche Pazifisten abgewatscht.
Nun überlegte der Guardian, wie sich ein solches Szenario vermeiden ließe und stellte fest:
„Peer pressure alone, however, is not likely to be enough. Biden should also find a way to reinforce that the US is not aiming to oust Putin – although it may be difficult to make this case convincing given the extensive sanctions regime, Biden’s own statements about Putin, and the past US record of overthrowing despots.”
Übersetzung
„Gruppendruck allein wird aber wahrscheinlich nicht ausreichen. Biden sollte auch einen Weg finden, zu bekräftigen, dass die USA nicht darauf abzielen, Putin zu verdrängen – obwohl es angesichts des umfassenden Sanktionsregimes, Bidens eigener Aussagen über Putin und der bisherigen Bilanz der USA beim Sturz von Despoten schwierig sein könnte, diesen Fall überzeugend zu machen.“
Ja, das ist das Problem: Wie macht der von den USA geführte Westen glaubhaft, es ginge ihm „nur“ um eine stabile internationale Ordnung, „nur“ um die Verhinderung des Schlimmsten.
Was eine US-geführte Weltordnung in den letzten 30 Jahren anrichtete, wissen - außer dem Westen - alle.
Wie der letzte Versuch eines amerikanischen Präsidenten (Trump) ausging, der glaubte, mit Russland klarzukommen, wäre etwas Gutes, auch. Obwohl, das Kapitel ist noch nicht zu Ende geschrieben.
Aber in der Washington Post wird schon mal vorsichtshalber vor einer Stimmabgabe für Republikaner in diesem Herbst gewarnt: Die würden nicht mehr so in Solidarität zur Ukraine stehen, wie die US-Demokraten.
https://www.washingtonpost.com/opinions/2022/09/20/chris-murphy-ukraine-republcan-house-defund/
Und dennoch, man muss es versuchen, diesen Krieg zu stoppen, der nie nur ein Krieg Russlands gegen die Ukraine war. Er ist auch ein Bruderkrieg, denn auf der russischen Seite kämpften und kämpfen Ukrainer. Er ist auch ein Stellvertreterkrieg West-Ost, spätestens seit den Waffenlieferungen der USA für die Ukraine. Einflussreiche Amerikaner haben nie einen Zweifel daran gelassen.
Er ist ein Krieg, nach dem US-Kreise lechzten, um Russland zu schwächen.
Er ist ein Krieg, den gleichwohl Russland vom Zaun brach, als vermeintlichen Befreiungsschlag in einer vom Westen dominierten Welt. Nun duelliert sich die Sprache der Macht.
Diese zu verlernen, ist die Aufgabe unserer Zeit. Viele Nationen der Erde weisen ein solches Verständnis zur „Lösung“ von Problemen zurück. Sie haben es satt, nur Schachfiguren von Großmächten zu sein. Auf der UN-Vollversammlung erklärte der senegalesische Präsident für die Afrikanische Union Bereitschaft, als Verhandler um Frieden in der Ukraine zu wirken.
Weil sie sich und uns alle, die Menschheit, retten wollen.
Eine solche Perspektive aber ist in Berlin, Paris oder Brüssel nicht zu Hause (in Washington sowieso nicht).
Man wird sogar als lächerlich empfunden, wenn man sie einnimmt: Eine „Weltenretterin”.
Solange das so bleibt, sind wir alle in großer Gefahr.
Die wahrscheinlichen Anschläge auf Nordstream 1 und 2 betreffen "kritische Infrastruktur", die sich überwiegend im russischen Besitz befindet (51%). Laut von der Leyen ist sie aber auch "aktive europäische Infrastruktur". Ob im Fall einer mutwilligen Beschädigung "Sabotage" das richtige Wort ist, bezweifle ich. Es ist mE. eher ein terroristischer Akt.
Der ehemalige Verteidigungs- und Außenminister Polens, Sikorski, heute Abgeordneter des EP, hat sich schon mal auf twitter bedankt, bei den USA.
https://twitter.com/radeksikorski?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctwgr%5Eauthor
Forbes berichtete
https://www.forbes.com/sites/michaelshellenberger/2022/09/27/us-blew-up-russian-gas-pipelines-nord-stream-1--2-says-former-polish-defense-minister/?sh=4b95d338312e
Man sollte in diesen Tagen, da Kriegsgeheul zum Ohrwurm verklärt und Frieden als Gesang von Lumpenpazifisten denunziert wird - wieder einmal - Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“ zur Hand nehmen. In den Erinnerungen eines Europäers beschreibt der Pazifist und Chronist den Untergang des goldenen Zeitalters der Sicherheit in den Flammen des ersten Weltkrieges. In der Asche des Infernos sah Zweig zumindest die Gewissheit keimen, dass sich eine derartige Apokalypse nicht wiederholen würde. Zweig irrte - es kam noch schlimmer. Und natürlich war auch die folgende Katastrophe begleitet von lüsterner Kriegsgeilheit, verlogenem Patriotismus, Hurra-Gebrüll und der eisernen Entschlossenheit, „den Feind“ um jeden Preis zu vernichten - ganz als ob es nicht den Untergang Europas zuvor gegeben hätte. Man fragt sich, was die heutigen Epigonen jener Wegbereiter der Katastrophen antreibt, schon wieder Krieg als Mittel zum Frieden umzulügen („Waffen helfen Menschenleben retten“ - Baerbock) und sich in Größenwahn (Deutschland muss eine Führungsrolle übernehmen) zu ergehen.
Der „Leuchturmwärterin“ ist beizupflichten, wenn sie befindet, dass sich viele Macher und Kommentatoren unserer Zeit offensichtlich in einem Computerspiel mit Suchtpotenzial wähnen. Aufgewachsen in einer unipolaren Welt als „Sieger der Geschichte“, in der Kompromisse als Fahnenflucht vor dem Feind, eigene Weltdeutung und verlogene Moral ohne jede Selbstreflexion als Richtschnur alternativlosen Handelns gelten, treiben die Selbstgerechten Stufe um Stufe die Eskalation voran. Stefan Zweig sah bekanntlich aus dem Fiasko kein Entkommen mehr und setzte seinem Leben ein Ende. Auch wenn Thomas Mann 1952 Zweigs Freitod als Entschluss würdigte, nicht „ in der Welt voller Hassgeschrei, feindlicher Absperrung und brutalisierender Angst, die uns heute umgibt, … fortleben“ zu wollen und zu können - wir sollten keine andere Wahl akzeptieren, als jene, uns mit Entschlossenheit immer wieder gegen die Logik der Gewalt zu stemmen.