Wie Lügengeschichten Geschichte machen
oder: Wenn es um Russland geht, muss man immer vom Schlimmsten ausgehen (Bill Browder)
Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er doch die Wahrheit spricht…
So lautete eine Drohung aus Kindertagen, und selbstverständlich funktionierte sie. Zeitweilig. Nicht, dass wir nicht die eine oder andere Schwindelei versucht hätten, aber dabei erwischt zu werden, ein kleiner Lügenbold zu sein, mit tiefroter Nase - das war eine andere Sache.
Und doch, all die Erziehung fruchtete wenig, denn der Mensch schummelt sich FÖRMLICH durchs Leben, mit kleinen oder größeren Notlügen, sich selbst und anderen gegenüber.
https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Jeder-Mensch-luegt-mehrmals-am-Tag-298344.html
In uns wohnt die Lust am Fabulieren, die Sucht nach gut erzählten Geschichten. Ihr Wahrheitsgehalt ist dabei nebensächlich. Der graue Prokurist, der Tag für Tag, Jahr für Jahr mit Zahlen hantiert, ist nicht unser Ding. Der wird erst interessant, wenn ihm plötzlich der Prozess gemacht wird.
Deshalb haben es dürre Fakten auch so schwer, ganz besonders, wenn eine absichtsvolle Lügengeschichte daherkommt. Die kann vor Widersprüchen nur so strotzen, das stört nicht weiter. Prall und gut erzählt muss sie sein. Die modernen Erzähler der Lügengeschichten verschaffen sich die nötige Aufmerksamkeit durch einen genialen Trick: Sie behaupten einfach, andere wären die Lügner und präsentieren sich als die eigentlichen Verteidiger der Wahrheit, die sich, selbstverständlich nur zu unserem Besten, dem Kampf gegen Falschinformation und Desinformation verschrieben hätten. Und es funktioniert – zwar nicht bei allem und jedem, aber hinlänglich zuverlässig. Denn selbst wenn sich Lügen entblößen, was in der Regel erst Jahre später der Fall ist, ist es längst egal. Die Tore wurden geschossen, die Punkte gemacht, das Spiel abgepfiffen und längst ein neues begonnen.
Nehmen wir ein paar Ereignisse der jüngeren Vergangenheit:
Der erste Fall führt uns ins Jahr 2006 nach Moskau und London. Wie andere Geheimdienste, die etwas auf sich halten, unterhält auch der MI 6 in Moskau ein Spionagenetzwerk, mit konspirativen Treffen, geheimen Nachrichten, ganz wie im Film. Dann aber flog das britische Netzwerk auf, und die Russen machten sich öffentlich lustig über die Methode der Nachrichtenübermittlung der Briten: Als toter Briefkasten diente ein künstlicher Stein.
Selbstverständlich dementierten die Briten alles empört und bezichtigten die russischen Gegenspieler der Lüge. Erst im Jahr 2012 räumte ein damaliger Regierungsbeamter ein, dass die Enttarnung des britischen Agentennetzwerkes plus der steinzeitlichen Übergabemethode ein Ärgernis für den Geheimdienst ihrer Majestät war. Das dürfte auch für den damals zuständigen Leiter der Russlandabteilung beim MI 6 gegolten haben. Karrierefördernd war es gewiss nicht. Nun mag jeder seine Phantasie spielen lassen, warum dieser Jahre später zum Erfinder einer der wichtigsten Verschwörungstheorien unserer Zeit wurde, niedergelegt im sogenannten „Steele-Dossier“. Das beschrieb die geheime Moskau-Connection des Donald Trump. Seither „weiß“ die Welt: Alle Wege von Trump führen zu Putin (und wie widerlich, auch zu Prostituierten, die in Moskau auf Betten pinkeln).
Der zweite Fall spielte sich 2018 im syrischen Douma ab und ermunterte mehrere Hauptstädte der Welt zu energischen Reaktionen. Erneut hatte es auf syrischem Territorium offenbar einen Giftgasanschlag gegeben. Mit 42 Toten, hunderten Verletzten. Im Guardian klagten traurige Kinderaugen an, und das Video der „Weißhelme“, das die Weltöffentlichkeit erreichte, war so verstörend, dass drei Länder umgehend militärische Vergeltungsschläge durchführten und Syrien bombardierten, darunter die USA. Endlich ist Trump zum US-Präsidenten geworden, konstatierte ein US-Journalist, während ein anderer verzückt von der „Schönheit unserer Bomben“ sprach“.
Wie immer bestritt die syrische Seite die Täterschaft. Die russische Seite, mit Assad verbündet, behauptete, es handele sich um ein gestelltes Geschehen. Der Independent wunderte sich über das Mysterium, warum Assad, schon auf der Gewinnerstraße, sich nun ein weiteres Mal die Verachtung der Weltgemeinschaft zuzuziehen bereit war.
Zum ersten Mal überhaupt, seit es die Vorwürfe von Giftgasanschlägen gab, entsandte die zuständige Behörde für die Kontrolle des Chemiewaffenverbots (OPCW) Inspektoren nach Douma, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Nach einem Jahr bestätigte die OPCW die Vorwürfe eines Giftgasanschlags in einem Bericht.
Damit wäre die Geschichte zu Ende, wären nicht Whistleblower aus der OPCW aufgetaucht, die den Mund aufmachten, weil sie sich um die Objektivität der OPCW sorgten. Die erzählten, dass zwischen ihren Untersuchungsergebnissen und dem Abschlussbericht der OPCW Welten lägen und dass auf die Arbeit der Organisation politisch Einfluss genommen worden wäre. Einer, ein Südafrikaner, hatte detailliert den Giftgasbehälter untersucht. Nach seinen Erkenntnissen konnte der unmöglich abgeworfen worden sein (syrische Armee), er wäre platziert worden (Rebellen).
Teil der Aussagen der betreffenden OPCW-Inspekteure war, dass sie ihre Befunde aus Douma mit Fachleuten aus westlichen Staaten besprochen hätten, darunter mit Chemiewaffenspezialisten aus Deutschland. Keiner dieser Fachleute meldete sich zu Wort. Eine interne Untersuchung in der OPCW zu den angeblichen Vorgängen der politischen Einflussnahme fand ebenfalls nicht statt.
Die Vertreter westlicher Staaten wiesen alles als russische Propaganda zurück. Die allermeisten großen Medien des Westens berichteten überhaupt nicht über die Aussagen der Whistleblower, denn die Sache war ja klar.
Bleibt nur noch eine Reportage von CNN, die aus Douma unmittelbar nach dem mutmaßlichen Anschlag berichtete. Im CNN-Bericht stapft eine Reporterin durch vergiftetes Terrain, schnüffelt an einem kontaminierten Dings und verzieht darauf angewidert ihr Gesicht. Das wäre der Moment gewesen, so Jimmy Dore, ein scharfzüngiger US-Comedian und Journalist, in dem er gewusst hätte, dass Douma eine Lügengeschichte sei. Denn wer, der einigermaßen bei Trost ist, schnüffelt schon freiwillig an mit Giftgas Vergifteten?
Gute Frage.
Der dritte Fall entführt uns auf die Flugroute Athen-Vilnius, aber auch nach Brüssel und Minsk. Wir schreiben das Jahr 2021. Das Regime von Minsk hatte offenbar eine Maschine von Ryan-Air, die nach Vilnius unterwegs war, gekapert und zum Landen gezwungen, um einen gesuchten Oppositionellen, einen Journalisten, festzusetzen. Die Financial Times zitierte einen Vertreter der belorussischen Opposition mit folgender Aussage:
“If the Europeans don’t want North Korea in the centre of Europe, if they don’t want aeroplanes with passengers to be shot down, they should react . . . It’s no longer a matter of Belarusian domestic policy, it is an issue of European security now.”
Übersetzung
„Wenn die Europäer kein Nordkorea im Zentrum Europas wollen und nicht wollen, dass Flugzeuge mit Passagieren abgeschossen werden, sollten sie reagieren . . . Es geht nicht mehr um belarussische Innenpolitik, jetzt geht es um die europäische Sicherheit.“
Weil gewissermaßen das Schicksal Europas auf dem Spiel stand, handelten die EU-Staats- und Regierungschefs umgehend. Sie verurteilten energisch die abscheuliche Tat, beschlossen Sanktionen gegen die staatliche Fluglinie der Weißrussen und forderten die zuständige internationale Behörde für die zivile Luftfahrt auf, den Fall umfassend zu untersuchen. Letzte brauchte dafür ein paar Monate, legte dann aber im Januar 2022 den Bericht ihrer Untersuchungen vor. Der bestätigte mehr oder minder, dass Minsk damals korrekt gehandelt hätte.
Aber das ist Schnee von gestern, denn die sanktionierte staatliche Fluggesellschaft von Belarus beförderte seither auch Flüchtlinge aus der Türkei und das ist wiederum eine Quelle von neuem Ärgernis.
Der vierte Fall betrifft einen aktuellen Regierungschef, der sich jüngst im Parlament anhören musste, er sei ein Lügner. Das war ein ungehöriger Vorgang, denn so was darf man im britischen Parlament aufgrund der dort geltenden Etikette nicht laut sagen.
Besagter Regierungschef war 2018 Außenminister und gab am 19. März 2018 der Deutschen Welle ein Interview zum sogenannten „Skripal-Fall“ (ein Doppelagent, den die mörderische Rache Putins bis nach Salisbury verfolgte und der dort, wie auch seine Tochter mit einem „Nowitschok“-Gift vergiftet und deshalb beinahe gestorben wäre und der heute, falls er noch lebt, so einsam ist, wie man nur sein kann).
Das DW-Interview erfolgte unmittelbar nach einem Treffen der EU-Außenminister und drei Tage vor dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs. Der EU-Außenministerrat hatte das mutmaßliche Attentat auf die Skripals scharf verurteilt, tat sich aber noch schwer, Moskau der Täterschaft zu beschuldigen, obwohl die britische Regierung am 12. März an die Öffentlichkeit gegangen war: Nicht mit Beweisen, aber einer messerscharfen Logik folgend: Motiv, Gelegenheit und russische Tatwaffe passten, also sollte der Kreml die Schuld gestehen.
Der tat das aber nicht, was bewies, wie schuldig er geworden war und Boris trat auf den Plan. Der erklärte der DW, seine Chemiewaffenspezialisten hätten ihm versichert, das Gift stamme aus Russland. Kein Vertun.
Drei Tage später war sich der EU-Gipfel einig, dass Moskau hinter dem Mordkomplott stecke. Der bulgarische Ministerpräsident bemerkte dazu, schließlich müsse man Verbündeten trauen, dass sie die Wahrheit sagten. Am 3. April 2018 widersprach dann der oberste britische Chemiewaffenspezialist der Darstellung seines Außenministers. Die Herkunft des Giftes wäre unklar, aber es stamme definitiv nicht aus dem eigenen Labor.
Zu dem Zeitpunkt waren politisch die Messen gesungen. Da jedoch Vorsicht die Mutter der Porzellankiste ist, schickten die Briten am 13. April 2018 ein ausführliches Schreiben an die NATO-Verbündeten. Darin erläuterten sie ihre Sicht auf den Fall, informierten über russisches Training von Giftgasattentätern und erwähnten auch das bekannteste britische Opfer des Anschlags, den Polizisten Nick Bailey, den „Ersthelfer“. (Nach der Frühjahrs-Version der Ereignisse hatte sich dieser in Pflichterfüllung bei der Unterstützung der Skripals schwer vergiftet.)
Am 22. November 2018 strahlte die BBC in der Sendung „Panorama“ erstmals ein Interview mit besagtem Nick Bailey aus. Der erklärte, niemals auch nur in der Nähe der Skripals gewesen zu sein. Er habe sich im Schutzanzug, wie, wisse er auch nicht genau, um Mitternacht am/ im Haus von Skripal vergiftet.
Das lockte schon niemanden mehr aus der Reserve, denn schließlich hatte Scotland Yard die Haustürklinke als Giftquelle ermittelt, die OPCW inzwischen die Natur des Giftes bestätigt, war das angebliche Mordwerkzeug an den Skripals (eine „Parfümfläschchen“- Attrappe) in Amesbury gefunden und erst zwei (später drei) russische Tatverdächtige präsentiert worden.
(Nun ja, bei dem Mordwerkzeug konnte sich Scotland Yard nicht ganz sicher sein, denn leider hatte ein Zeuge diese Geschichte in aller Öffentlichkeit regelrecht versaut, aber das ist eine andere, sehr viel längere Geschichte.)
Heute ist Nick Bailey kein Polizist mehr, streitet sich um Schadenersatz mit dem ehemaligen Arbeitgeber und gibt gelegentlich Interviews, in denen er zu viel schwatzt. Die Todesumstände von Dawn Sturgess, mutmaßliches Opfer des giftigen „Parfümfläschchens“, sind bis heute nicht formell geklärt. Nach den russischen Tatverdächtigen wird nicht gesucht, jedenfalls nicht mit Europäischem Haftbefehl (Stand November 2021).
Dank des Skripal-Falls aber „weiß“ die Welt, dass die Russen ein verbotenes Chemiewaffenprogramm unterhalten, das sie bei „Bedarf“ aus der Tasche ziehen. Auch im Fall der Ukraine ist das nicht ausgeschlossen. Die OPCW musste sich deshalb auch gar nicht mit der Frage befassen, ob tatsächlich ein derartiges Programm existiert. Denn was man weiß, weiß man.
Seither „weiß“ die Welt auch, und auch das Dank der Briten, dass die Russen eine militärische Trainingseinheit haben, die genaustens übt, wie man Menschen mittels Nervengiften auf Türklinken (Skripal) ermordet. Offenbar gehörten auch Nervengiften in Unterhosen (Nawalny) zum Trainingsprogramm, was die Briten 2018 aber noch nicht wussten.
Wie die Fälle Skripal und Nawalny glücklicherweise zeigten, scheint das ganze Training verlorene Mühe. Es ist quasi ein Indikator der ganzen Jämmerlichkeit der russischen Armee, wie man an der Ukraine sieht. Die Blitzkrieg-Strategie ging in die Hose, nichts kriegen sie gebacken. Schlimmer noch, die bringen den Krieg mitten auf die Entbindungsstation.
Folglich wird die Ukraine gewinnen, muss sie gewinnen. Schon, weil sie für uns kämpft, für unsere Freiheit und Demokratie, also für zentrale Werte, die die Ukraine immer hochhielt, während wir sie schon viel zu lange als allzu selbstverständlich abtaten, so dass wir sie nunmehr in neuer Demut wieder als das erfahren, was sie sind: Etwas unendlich Kostbares.
Slawa Ukrajini! Das stammt zwar von Bandera, aber ist viel zu schön und schade, um nicht benutzt zu werden.
Und weil das alles so ist, geben wir gerne, damit die Ukrainer weiter für uns kämpfen, bis zum letzten Atemzug. Dafür schnüren wir dankbar die Gürtel enger. Die allermeisten sind sowieso wegen des Lockdowns zu bequem und zu fett geworden. Jetzt folgt die Ertüchtigung: Bewegung und ein zusätzlicher Pullover wirken Wunder in der kalten Stube. Denn wenn die Ukrainer nicht siegen, dann kommen die Russen mit ihrer jämmerlichen Armee womöglich doch über die Ostgrenze der NATO gekrochen, denn diesen Nicht-Europäern gilt ja der Tod nicht so viel wie uns EU-Europäern (Gaub), die stecken den schlicht weg, von individueller Lebenserfülltheit keine Spur, einfach „gruselig“ (Markus Lanz).
Nur dieser Putin scheint aus der Art zu schlagen, regelrecht paranoid, wie der am Leben hängt.
Und weil das alles so schön erzählt wird von all den tapferen Kämpferinnen und Kämpfern gegen Desinformation und Propaganda, schaudert und graust es uns täglich: Was für Geschichten!
Liebe Petra Erler, ich hoffe Sie richtig verstanden zu haben, dass wir manchmal sarkastisch sein müssen, um die Gegenwart zu ertragen und daraus wiederum Kraft für die Zukunft schöpfen. Ich wünsche uns, dass es gelingt.
Achja, Bill Browder, auch so ein "Wahrhaftiger" https://www.heise.de/tp/features/Arte-stoppt-Dokumentation-zum-Fall-Sergej-Magnitzki-3197047.html
Und hier kann man den abgesetzten Dok-Film von Nekrassov sehen. https://swprs.org/magnitsky-act-film/