Werden Menschen noch gebraucht und wenn ja, wie viele?
Neue Techniken, Sinnverlust und totalitäre Versuchungen
„Der Homo sapiens regiert die Welt, weil er das einzige Tier ist, das in der Lage ist, an Dinge zu glauben, die nur in seiner eigenen Vorstellung existieren, wie Götter, Staaten, Geld und Menschenrechte.“
https://www.ynharari.com/de/book/eine-kurze-geschichte-der-menschheit/
Diese These durchzieht das erste Buch von Harari „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, Es erregte weltweit große Aufmerksamkeit. Präsident Obama nahm es damals in seine öffentlichen Literaturempfehlungen auf, als ein Werk, das seine Meinung mitgeformt habe.
https://www.timesofisrael.com/israeli-jewish-authors-feature-on-obamas-essential-reading-list/
Zu diesem Zeitpunkt gab Harari der Süddeutschen Zeitung ein Interview, in dem er auf die großen wissenschaftlich-technischen Umwälzungen aufmerksam machte, auf die Überzeugung einiger, so den Tod besiegen zu können. Er warnte damals, dass
kaum einer auf eine Entwicklung vorbereitet sei, in der es viele Verlierer geben könnte. Es sei noch nicht einmal klar, ob und wie viele Menschen noch gebraucht würden, welche Rolle der Mensch künftig überhaupt spielen würde.
Harari hörte nicht auf, über diese Fragen nachzudenken und dazu auch öffentlich immer wieder Stellung zu beziehen. Er punktet mit provokanten, aber auch nicht immer widerspruchsfreien Thesen und wurde definitiv zu einem Liebling von Silicon Valley. 2021 erwartete er, dass die Treiber der modernen Technologien (Biotechnologie, künstliche Intelligenz) mit einer neuen Religion (dem wissenschaftlich-technischen Himmel auf Erden) die Sinnfragen der Menschheit lösen würden.
Am 9. August 2022 äußerte sich Harari in einem TED-Talk erneut zu seinem großen Thema. Aber nunmehr wies er Silicon Valley nicht mehr die Rolle des Heilsbringers zu.
Heute, so Harari, gebe es kein Narrativ mehr, an das viele Menschen glauben könnten. Nachdem das faschistische und das kommunistische Narrativ kollabiert wären, sei nun auch das libertäre Narrativ in den letzten 10 Jahren gescheitert.
Einerseits lebten die Menschen in der besten Welt, die es je gab, andererseits fühlten sie sich entfremdet und spürten: „Die Welt braucht mich nicht mehr“. Diese Wahrnehmung sei korrekt.
Für Harari steht die Menschheit am Scheideweg: Ohne ein neues gesellschaftliches und soziales Modell, so fürchtet er, werden Digitalisierung und künstliche Intelligenz und Bioengeneering eine Vielzahl von Menschen „überflüssig“ machen (vom Standpunkt der Wertschöpfung).
Sie hätten schlicht nicht die Bildung, die in der Informations-Wirtschaft gebraucht würde, um daran sinnvoll teilzuhaben. Allenfalls könnten bestimmte Nationen noch als „Datenkolonien“ eine bestimmte Rolle haben, aber ohne Mitsprache und ohne gleichberechtigte Teilhabe am Profit.
Noch seien die (über soziale Medien und das Internet) geschürften Daten der Menschen relevant, um künstliche Intelligenz (KI) weiterzuentwickeln und Mensch und Technik schrittweise zu fusionieren. Er fürchtet jedoch, in naher Zukunft wird die alles entscheidende Grenze überschritten: es wird nicht mehr „nur“ darum gehen, wie ein Mensch sich verhält (was er beispielsweise einkauft, wo er hingeht usw.), sondern wie es „unter der Haut“ aussieht, in seinem Hirn.
Aktuell sorgten sich die Menschen um den Überwachungskapitalismus, aber kaum einer frage sich, was es für die Zukunft bedeute, wenn Maschinen ins Innere des Menschen schauen können und ihn besser verstünden als er sich selbst.
Was ist dann ein gutes Leben, fragt Harari.
Er fürchtet, dass eine Lage entstehen könnte, in der modernste Technik Einsicht bekäme in all das Chaos und Unausgegorene, das in ihm (wie in jedem Menschen) wütet, und das er in seiner Totalität weder selbst voll versteht, noch bereit wäre, mit einem geliebten Menschen in Gänze zu teilen. Hierin lägen Möglichkeiten des Missbrauchs und der Kontrolle, die ihn ängstigen.
Die neuen Techniken würden einerseits das Leben verbessern. Aber genau darin lägen die Gefährdungen. Nicht zuallererst durch den gezielten politischen Missbrauch, sondern durch das schrittweise Abtreten menschlicher Entscheidungen an KI (weil die scheinbar vernünftiger entscheidet).
Schon die Schöpfer solcher Technologien würden nicht nachdenken, dass sich die Sinnfrage der menschlichen Existenz stellen könnte. In übertragenem Sinn glaubt Harari, dass sich die Treiber der neuen Technologien wie Zauberlehrlinge verhalten und den allerwenigsten Menschen bewusst ist, dass die Nutzung ihrer Daten zum Fluch werden könnte. Für Harari ist nicht definiert, was eine informationelle Selbstbestimmung ist und welchen Wert persönliche Daten in der sich abzeichnenden Gesellschaft tatsächlich haben.
Laut Harari befinde sich die Menschheit, aber auch jeder einzelne Mensch in einem Wettbewerb mit Unternehmen und Regierungen. Wenn Letztere diesen Wettbewerb gewinnen sollten (den Menschen erfolgreich hacken können, im Sinn von Durchschauen und Manipulieren), sei das „Spiel für den Menschen gelaufen“ – game over.
Daher sollte jeder einzelne Mensch sich selbst besser erforschen, insbesondere um zu erkennen, wo der Hass und die Ängste, die ihn umtreiben, herkommen. Denn die unentwegte Verstärkung dieser negativen Gefühle sei die entscheidende Waffe, die (von den Mitwettbewerbern, sprich Unternehmen und Regierungen) gegen ihn gerichtet werden. Lange bevor gesellschaftlich fatale Wirkungen aufträten, spüre der einzelne Mensch bereits die eigene Beschädigung.
Ein neues geteiltes Narrativ, eine gemeinsame Geschichte, die die Menschheit verbindet und ihr so die Zusammenarbeit zur Lösung der großen globalen Probleme ermöglicht, gibt es laut Harari nicht, und die Menschheit habe auch keine Zeit mehr, Jahrzehnte zu reflektieren, wie eine solch verbindendes Narrativ aussehen könnte. Von einer erlösenden Rolle von Silicon Valley spricht er nicht mehr.
Man muss Hararis Hypothesen nicht im Einzelnen teilen, aber er spricht Fragen an, die längst nicht nur Teil einer imaginären Zukunft sind.
Harari führt in jedem Fall logisch fort, wovor Snowden und andere seit Jahren warnen: vor dem Irrglauben, der sich gesetzestreu verhaltende, „normale“ Mensch habe nichts zu verbergen (niemand bei Trost gibt bsw. freiwillig seine Kontozugangsdaten unbekannten Dritten) und vor der Naivität, dass Datensammlung und -überwachung ausschließlich dazu dienen, die kriminellen oder demokratiezersetzenden Elemente in einer Gesellschaft besser zu enttarnen.
Während das Strafgesetzbuch sehr klar die Grenzen der Legalität definiert, liegt die Definitionshoheit, was die Demokratie gefährdet, bei den Sicherheitsorganen, deren demokratische Kontrolle praktisch schwierig ist, wie die Arbeit von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen immer wieder zeigte.
Der belgische Wissenschaftler Desmet warnte vor totalitären Entwicklungen, die entstehen können, wenn viele Menschen Ängste haben, einsam sind und ihre Leben als wertlos empfinden. Wenn sich für diese Ängste ein Anker findet und sie plötzlich das Gefühl haben, wieder ein nützliches Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, sind sie zu Handlungen fähig, die sie unter „normalen“ Gegebenheiten nie tun würden und merken es noch nicht einmal. Sie werden blind für Irrationales aber auch blind für das Leiden ihrer Nächsten. Ihnen gilt die Solidarität mit der namenlosen Masse mehr. Die Tragik will es, so Desmet, dass gebildetere Menschen vermehrt diesem Zustand zum Opfer fallen. Für Desmet entstand eine solche Situation in der Pandemie, die bis heute andauert.
Insbesondere US-Journalisten haben in den letzten Jahren immer wieder thematisiert, dass die großen Desinformationskampagnen keineswegs dem Kreis von Aluhüten und Extremisten entsprangen, sondern politischen Institutionen, und dass sie durch die sogenannten Mainstream- oder Leitmedien verbreitet wurden. Zumindest in den USA hat dieser Umstand zu einem regelrechten Zusammenbruch des öffentlichen Vertrauens in Medien geführt, der das gesamte politische Spektrum erfasst aber auf demokratischer Seite etwas geringfügiger ausfiel.
https://news.gallup.com/poll/394817/media-confidence-ratings-record-lows.aspx
In der EU sieht die Lage aufgrund des öffentlich-rechtlichen Rundfunks etwas besser aus, dem immerhin 49% aller Menschen noch vertrauen. Aber rosig ist sie auch nicht.
Man muss nicht lange nach den Ursachen dieses Vertrauensverlusts suchen. Je enger der öffentliche Debattenraum wird, um so mehr wird der Einzelne und der gesellschaftliche Zusammenhalt beschädigt. Ohne offenen und unaufgeregten Diskurs, der die Kluft zwischen Erzähltem und Erlebtem schließt und Menschen zusammenführt, drohen Realitätsverlust, aber auch Vereinsamung und innere Emigration, im schlimmsten Fall Intoleranz und Hass.
Deshalb ist die fortwährende Begrenzung des öffentlichen Debattenraums auch so schädlich, nachgerade demokratiegefährdend.
Denn die Folge sind nicht Politikänderungen, die vorhandene öffentliche Sorgen und Ängste aufnehmen, sondern ein gesellschaftlicher Meinungskäfig, in dem es nur noch um die Aufrechterhaltung der Gefängnisordnung geht.
Ein paar Anmerkungen zu ihren Überlegungen als Ergänzung:
„Meinungskäfig“ ist ein treffendes Wort von ihnen für das, was mit der Einengung von Debattenräumen gerade in vielen Ländern passiert. Der tägliche Paukboden für alle ist geschaffen, die Erregungsschübe finden ihr willkommenes Ziel in den „sozialen Medien“. Die Regierenden können entspannt bleiben, weil die Öffentlichkeit zerkrümelt und mit aller Vehemenz nun in kleinen Gruppen gegeneinander antritt. Obwohl wir national wie international so dringend wie vielleicht nie auf Kooperation angewiesen sind, treibt der Souverän ins Gegenteil, klammert sich in seiner aufkommenden Panik an „Bewährtes“. Stärke, Härte, Kontrolle, Überwachung. Damit können viele etwas anfangen – zum eigenen Nachteil, weil schnell wesentliche Merkmale von Demokratie zur Debatte stehen.
Was Wahrheit ist, wird – wie sie an anderer Stelle sagten – mehr und mehr von diesen Medien bestimmt; wohlgemerkt von privaten transnationalen Unternehmen mit nie da gewesenem Einfluss und im engmaschigen Austausch mit Regierungsbehörden und Sicherheitsdiensten. Unabhängige Gerichte spielen dabei keine Rolle.
Wenn nur der Graben zwischen Erzähltem und Erlebtem wäre, fände sich schon ein Weg zum Miteinander. Das Erlebte ist aber von Kindesbeinen an massiver Filterung unterworfen; geglättet, geschmirgelt und gebogen durch Mythen und Ideologien, die im Lauf des Lebens zu einer festen Struktur an Glaubenssätzen werden. Klärung tut da zwar Not, rückt aber in immer weitere Ferne, weil die errichteten Zäune immer höher werden und alle zu Gefangenen machen. Die Zukunft könnte eine mehr oder weniger große Aufsplitterung sich gegenseitig bekämpfender Gruppen und Grüppchen bringen. Als Gesamtheit zur bewussten Mitgestaltung ihres Gemeinwesens fallen die Bürger dann aber aus.
Kleine, gut vernetzte Machtzirkel erledigen stattdessen in Hinterzimmern das, was zum Machterhalt und zur Sicherung ihrer Interessen notwendig ist. Der Souverän erlebt vor seinen Augen eine demokratische Bühne mit gekonntem, propagandistischem Tamtam, aber die Wahl beeinflusst nichts (mehr). Wer genau hinschaute, konnte dies bereits in der Vergangenheit wahrnehmen: Nahezu 70 % alle Bürger sind länger schon für höhere Renten, votieren in Umfragen gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr, setzen sich für ein effizienteres und besseres Gesundheitswesen ein, kritisieren Hartz IV. Aber sie bekommen von “Experten“ wie Herrn Raffelhüschen die private Vorsorge an die Backe geklebt – mit bekanntem Ausgang für die Altersrente. Und von interessierten Kreisen wird schon jetzt die Rente mit 70 oder mehr Jahren angedroht. Hartz IV wird bald 'Bürgergeld' heißen; der Begriff - so der ehemalige Chef der Bundesagentur - sei weniger diskriminierend. Dass der eigentliche Skandal durch die Regelsätze entsteht, ist Tabu.
Deutsche Kampfflieger mit Logistik fliegen seit wenigen Tagen über dem Südchinesischen Meer. Der kommandierende, deutsche General erklärte im Deutschlandfunk, der Einsatz wäre für niemanden ein Zeichen. Salopp gesagt: Wer also mit der Axt vor fremden Haustüren herumsteht, setzt damit kein Zeichen? Lieber General, möchte ich sagen, klopfen sie an ihre Schirmmütze und fragen sie sich, ob sich darunter noch ein Kopf befindet.
Die Funktionseliten tabuisieren, verleugnen, verkürzen und kein Journalist weit und breit, der fragt.
Übrigens hat sich Stephen Hawking, der weltbekannte Astrophysiker, noch schärfer als Harari zum Thema KI geäußert. Er warnte die Menschheit vor ihrer Auslöschung durch eine aus dem Ruder laufende Künstliche Intelligenz. Vermutlich weniger durch Missbrauch - der mit Sicherheit auch dazu gehört - als durch ihre gewonnene Kompetenz. Andererseits war er optimistisch, dass sich vielleicht - ‚deus ex macina‘ - ein zweiter Einstein fände, der die Welt rettet. Da kann man wirklich nur hoffen…
Das muss eine Weile arbeiten. Dennoch will ich ein paa meiner gedankenfetzen hier loswerden. - - - Das klingt alles sehr schlüssig. Dystopisch und zugleich sehr nah an dem was real zB. von Elon Musk angestrebt und verfolgt wird. Kontrolle und "Vernetzung" individuellen Denkens und Fühlens. Neulich gab es dazu im ZDF eine Sendung. - Nachdem ich den Beitrag las - den ich wieder sooo treffend und klar finde - dachte ich, dass vielleicht eine Hoffnung in der Begrenzung unserer Ressourcen liegt. Diese enormen Datentransfers und eine weltumspannende digitale Menschenkontrolle fräßen doch enorme Energie. Schon jetzt ist die Digitalisierung einer der größten Energiefresser der Erde. - Aber das allein ist ja nicht Kern der Warnungen. Die Manipulation der Menschen, das enorme Begrenzen öffentlichen Diskurses, der Mangel an Offenheit, der spürbar ist, was das mit uns Menschen macht, liebe Petra, hast Du hier so gut auf den Punkt gebracht. Und auch wie wichtg es ist, sich selbst zu beobachten, sich wahrzunehmen , wach und aufmerksam, annehmend und ohne Wertung auch gegenüber den hochfahrenden Gefühlen gegen wen oder was auch immer und den Gefühlen wie Angst und Zorn und Hass zu sein. Sie gehören zu einem. Aber wie setze ich sie ein, wie lasse ich mich von ihnen lenken oder schaffe ich es, sie zu kanalisieren und zu ergründen. - Wenn Du schreibst, die Menschheit befände sich an einem Scheideweg...wohin führt der andere Weg? Hier ist der beschrieben, der mehr Kontrolle und Macht für wenige bringt und die Welt noch weiter in einen dystopischen Zustand treibt, der sich ja schon heut erahnen lässt. Aber welche Aussicht böte der andere Weg? Oder die anderen Wege? Gibt es sie? Oder ist es gar kein Scheideweg, sondern nur die lineare Fortführung der kapitalistischen hochtechnisierten Machtstrukturen? - - Manchmal denke ich ein wenig hoffnungssuchend, dass die Lösung, oder der Knall, der diese relative lineare dystopische Entwicklung aufhielte womöglich aus einer Ecke kommt, an die wir gar nicht denken oder nicht denken können. Etwas ganz und gar Unerwartetes. - - -