Frau Schwarzer hat einen Brief geschrieben. An den Bundeskanzler. Zum Ukraine-Krieg. Sie und die, die ihn unterzeichneten, haben offenbar Sorgen, Deutschland könne in diesen Krieg direkt verwickelt werden, Sorgen, dass sich daraus ein Weltenbrand entwickelt. Die Autoren lehnen die weitere Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ab. Sie fürchten, dass dadurch der Krieg verlängert wird, dass noch mehr Menschen sterben werden.
Das ist eine völlig legitime Position, die ausgesprochen höflich vorgetragen wurde, sich allerdings gegen die vorherrschende politische und veröffentlichte Meinung richtet. Sonst hätten die Autoren den Brief nicht verfasst.
Erwartungsgemäß wurden die Verfasser sofort als „andersdenkend“ identifiziert und umgehend in die Verteidigung gedrängt. Der Bundeswirtschaftsminister sprach von „Vulgärpazifismus“.
„Was folgt aus dieser Argumentation (Anm.: der Briefeschreiber)?“, fragte Habeck: „Eigentlich doch nur, dass ein bisschen Landbesetzung, Vergewaltigung und Hinrichtung einfach hinzunehmen sind und die Ukraine schnell kapitulieren solle. Das finde ich nicht richtig.“
Vertreter ukrainischer NGOs in der Bundesrepublik Deutschland waren „zutiefst erschüttert und entsetzt“. Sie spüren im Schreiben eine „gleiche Verachtung“ für alles Ukrainische, wie die, die den Aggressor leite, der auf „Vernichtung alles Ukrainischen“ aus sei. Für sie kommt die Aufforderung zum Kompromiss „einer Aberkennung des Existenzrechts der Ukraine als unabhängiges, selbstbestimmtes Land gleich“.
Frau Bosetti war regelrecht angewidert von dem Schreiben, das eine „gewisse Intellektualismus-Diarrhö“ birgt. Sinnvollem kann man ja zustimmen, meinte Frau Bosetti, aber in dem Text findet sie nichts wirklich Sinnvolles. Na klar, niemand will einen Atomkrieg, aber „Wie um alles in der Welt kann irgendjemand behaupten zu wissen, wie man diesen Atomkrieg abwendet“, fragte sie. Frau Bosetti hielt es für sinnvoller, den Eroberer so schnell wie möglich aufzuhalten, kann sich aber durchaus vorstellen, „dass das mit dem Atomkrieg trotzdem passiert, egal was wir tun.“
In der Zeit haben inzwischen andere Intellektuelle den Gegenbrief geschrieben, mit dem weitere Waffenlieferungen an die Ukraine befürwortet werden und in dem festgestellt wird, dass es
„im Interesse Deutschlands (liegt), einen Erfolg des russischen Angriffskriegs zu verhindern. Wer die europäische Friedensordnung angreift, das Völkerrecht mit Füßen tritt und massive Kriegsverbrechen begeht, darf nicht als Sieger vom Feld gehen.“
Wieder andere wollen sich nicht von Putin nuklear erpressen lassen. Solange die NATO nicht direkt in der Ukraine eingreife, wäre das Risiko extrem gering, findet die Stiftung Wissenschaft und Politik.
https://www.swp-berlin.org/publikation/russlands-nukleare-drohgebaerden-im-krieg-gegen-die-ukraine
Wie kann man bei einer solchen Argumentationslage noch einen kühlen Kopf behalten? Einig scheinen sich offenbar alle darin, dass der Krieg gegen die Ukraine völkerrechtswidrig ist und dass er beendet werden muss. Allein das „Wie“ scheidet die Geister.
Im Winter 2021, noch vor Kriegsausbruch, stellten die USA klar, dass sie im Falle eines russischen Angriffs auf die Ukraine nicht direkt militärisch intervenieren würden, aber gleichzeitig bereit wären, haarscharf an der Grenze des Kriegsnebels zu balancieren, also dort, wo man nicht mehr genau weiß, ob man schon mitten in einem direkten Krieg gegen Russland steckt oder erst kurz davor. Das begründete die Lieferung von Kriegswaffen, die Übermittlung von Geheimdienstinformationen. So sei der Ukraine geholfen worden, russische Generäle zu töten, nachzulesen in der NYT.
https://www.nytimes.com/2022/05/04/us/politics/russia-generals-killed-ukraine.html
Es ist daher auch damit zu rechnen, dass der Ukraine westliche Spezialisten zur Seite stehen, die diese Informationen analysieren können, um sie zu verwerten. Die Logik ist einfach: Mit massiver westlicher militärischer Hilfe und umfassenden Sanktionen gegen Russland wird die Ukraine den militärischen Sieg über Russland erzielen, Russland wird strategisch geschwächt werden.
Damit hat der Russland-Ukraine-Krieg inzwischen alle klassischen Züge eines Stellvertreterkrieges. Seth Moulton, US-Demokrat und Mitglied im Verteidigungsausschuss des US-Kongresses formulierte es in einem Interview so: „We’re not just at war to support the Ukrainians. We’re fundamentally at war, although somewhat through a proxy, with Russia, and it’s important that we win.”
Übersetzung
„Wir führen nicht nur Krieg, um die Ukrainer zu unterstützen. Wir befinden uns grundsätzlich im Krieg mit Russland, wenn auch etwas durch einen Stellvertreter und es ist wichtig, dass wir gewinnen.“
Was aber, wenn das Kalkül nicht aufgeht? Und es spricht sehr vieles dafür, dass dieses Kalkül auf äußerst wackligen Füßen steht. Russland kann diesen Krieg gewinnen, warnte jüngst ein österreichischer Militärexperte, und er war weder der Erste noch der Einzige.
In diesem Krieg steckt jede Menge weiteres Eskalationspotential. Auch militärstrategische Laien begreifen, was es bedeutet, wenn sich laut NYT westliche Experten wundern, dass die russische Seite trotz der Brutalität (noch) eine merkwürdig zurückhaltende Kriegsführung betreibe.
https://www.nytimes.com/2022/05/03/briefing/russias-hesitation.html
Laut NYT glauben diese Experten, das liege an der Inkompetenz der russischen Armee.
Tatsächlich hat Russland seine mehrfachen Drohungen nicht wahrgemacht, die militärischen und sicherheitspolitischen Entscheidungszentren in Kiew aus der Luft anzugreifen. Inzwischen aber häufen sich die russischen Angriffe auf die Energieversorgung der ukrainischen Eisenbahn, die mit Elektroloks fährt. Wenn das nicht mehr repariert werden kann, bricht ein wichtiger Bereich der ukrainischen Infrastruktur zusammen, und auch der Nachschub von ausländischen Waffen müsste, falls das überhaupt ginge, auf die Straße verlagert werden. Die Treibstoffversorgung in der Ukraine ist ebenfalls bereits prekär. Zudem kämpft die Ukraine nunmehr um Gebiete, die inzwischen von der russischen Armee besetzt sind. In solchen Gefechten sterben nicht nur russische Soldaten, sondern auch Ukrainer, Soldaten und Zivilisten. Das alles kann zu noch sehr viel mehr Kriegsschäden führen und, je länger sich das hinzieht, in der völligen Zerstörung der Ukraine münden.
Moralische Entrüstung kann das nicht reparieren. Bis zum Kriegsbeginn gab es „nur“ die Frage, wann und wie der Donbass in die Ukraine so integriert werden kann, dass er einen Autonomiestatus hat. Diese Frage erscheint längst obsolet. Auch die Krim scheint definitiv für die Ukraine verloren, und falls Odessa fällt, hat die Ukraine auch keinen Zugang mehr zum Schwarzen Meer. Weil das alles droht, gibt es inzwischen Spekulationen, ob man eine zweite oder dritte Front aufmachen könnte: in Transnistrien, in der Westukraine, um auf diese Weise Russland militärisch zu schwächen. Allein, dass es diese Spekulationen gibt, zeigt, dass ein militärischer Sieg der Ukraine über Russland keineswegs so sicher ist, wie postuliert.
Das stellt die alles entscheidende Frage: Welche Optionen hat der Westen für den Fall parat, dass Russland seine erklärten Kriegsziele in der Ukraine verwirklicht oder aber neue Kriegsziele formuliert?
Was, wenn dieser Krieg völlig total wird: der Untergang der Ukraine, wie wir sie kennen versus dem Untergang Russlands, wie wir es kennen?
Schaut er dann zu? Zieht er die Reißleine und gibt einer Verhandlungslösung den Vorzug, oder werden wir direkt in die nukleare Konfrontation marschieren?
So, wie die heutige Stimmungslage ist, steht der Versuch, eine europäische Sicherheitsordnung zu schaffen, die auch den legitimen Sicherheitsinteressen der russischen Seite genügen würde, nicht auf der Agenda.
Niemand sollte das mit Vernunft oder gar einer Position der Stärke verwechseln. Es ist eine Position äußerster Wut, die aus einer Defensivposition geboren ist. Die US-geführte NATO kann nicht mehr unbeschränkt agieren, wie sie will. Das hatte die Münchner Sicherheitskonferenz bereits 2020 bemerkt. Zudem durchbricht die russische Aggression gegen die Ukraine ein Tabu. Bisher waren völkerrechtswidrige Kriege das ausschließliche Terrain der USA und ihrer Verbündeten, und wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Allein dem Westen „stand es zu“, rote Linien aufzuzeichnen und wenn sie angeblich oder tatsächlich verletzt wurden, zu „handeln“, sprich zu „vergelten“.
Nun aber verfährt der russische Bär genauso, was einer Anmaßung ohnegleichen klarkommt, ohne dass man ihn dafür direkt erschießen kann. Diese „Mittelmacht“ gebärdet sich de facto wie eine Supermacht, die die Stimme des Westens nicht mehr interessiert. Der wichtigste Verbündete Russlands, China, avancierte zwar jüngst zum Hauptgegner der USA, aber die wechselseitige Abhängigkeit ist längst zu groß, um China nunmehr auch zu bestrafen.
Das alles ist ein katastrophales Ergebnis einer Politik, die seit Jahren auf Konfrontation setzt, und nicht, wie uns gerade täglich in die Hirne gehämmert wird, Resultat eines Moskau- freundlichen Kurses.
Es gab durchaus einen solchen Kurs in europäischen Hauptstädten. Anfang des Jahrtausend galt in der EU die Devise, alles zu unterlassen, was Russland verärgern könnte. „Russia first“ war gängiges Denken. Als Litauen vor dem Beitritt in die EU stand, musste das Problem des russischen Zugangs zu Kaliningrad gelöst werden. Damals waren fast alle EU-Staaten und auch viele in der Europäischen Kommission bereit, die russischen Wünsche nach einem Eisenbahn-Korridor durch Litauen zu schlucken. Um des lieben Friedens willen. Für Litauen hätte es den Verzicht auf die Teilnahme am Schengenraum bedeutet. Dass es nicht so kam, lag an der Bereitschaft Weniger, sich dem energisch entgegenzusetzen und für eine Verhandlung mit Russland zu plädieren. Ihnen ging es um eine Lösung, die Litauen ebenso gerecht werden würde wie den Interessen Russlands nach Zugang zu seiner Exklave. Das war in keiner Weise einfach, aber es gelang. Da ich Teil dieser Wenigen war, weiß ich, worüber ich rede. Gleiches galt in jenen Jahren für die EU-Ukraine-Politik. Falls sich mal einer von Bedeutung in Kiew blicken ließ, dann in größter Unverbindlichkeit.
Bis es spätestens 2006/2007 zu einer Wende in der westlichen Diplomatie um 180 Grad kam, anlasslos, wenn man mal davon absieht, dass Russland unter Putin alles daransetzte, niemals wieder in die verheerenden 90er Jahre seiner Entwicklung zurückzufallen.
In den Jahren der zunehmenden Konfliktanheizung gegen Russland fand ich mich wieder in einer Minderheitenposition, nicht aus Russlandfreundlichkeit, sondern diesmal aus Sorge, was in Europa entstehen könnte, wenn die Sprache der Militärs die Sprache der Diplomatie endgültig übertönt.
Die EU sprach zwar zunehmend von ihrer globalen Rolle, aber welche Rolle ihr in Europa zufiel, hat sie nicht umgetrieben. Es gab und gibt keine kontinentale Strategie der EU. Auch in Deutschland wurde der Verfassungsauftrag von Art 23, Satz 1 ignoriert, populistisch das „vereinte Europa“ und die EU in einen Topf geworfen.
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_23.html
Heute ist es nicht anders. Diejenigen, die 2016 versprachen, eine Bewaffnung der Ukraine würde den Donbass-Konflikt schneller lösen, haben gelogen.
https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2016/03/18/the-obama-doctrine-and-ukraine/
Diejenigen, die alles und jedes zum Anlass nahmen, um Russland zum Paria der Welt zu machen, haben in höchstem Maße verantwortungslos gehandelt. Sie wollten nie mit Russland reden, allenfalls über Russland, und keine Lüge war ihnen je zu billig.
Und die mit der EU assoziierte Ukraine? IMF und EU haben seit 2014 Milliarden an öffentlichen Geldern in dieses Land gepumpt, Oligarchen haben sich daran bereichert. Jeder, der eine volkswirtschaftliche Statistik lesen kann, weiß, es hat dem Land nicht geholfen, es wurde nur noch ärmer, noch korrupter, noch polarisierter. Die Ukraine ist bis heute nicht die demokratische Alternative vor Moskaus Toren.
Wir haben so getan, als interessierte uns das ukrainische Volk. Doch Geld ersetzt kein echtes Interesse, und schon gar nicht echte Kooperation. Wir haben zugesehen, wie die Ukraine entgegen ihren eigenen Interessen immer russlandfeindlicher wurde und sich das Land dadurch selbst schwer verwundete, es menschlich wie ökonomisch ausblutet. Was die Ukraine unter den schwierigen Bedingungen einer Systemtransformation selbst fabrizierte, ist nicht zur Nachahmung empfohlen. Auch in ihrem Fall rächt sich bitter, dass die westliche Öffentlichkeit nicht verstehen konnte oder wollte, dass der Wille eines Volkes zu einem gesellschaftlichen Neubeginn, der Glaube an Demokratie und Freiheit missbraucht werden kann. So rächt sich, dass der Westen bis heute nicht begreift, was diese Transformation eigentlich ist: Ein unendlich komplizierter Prozess, der Jahrzehnte dauert und vor- und rückwärts und seitwärts verläuft, viel Blendwerk enthält und gleichzeitig soviel Ehrliches. Er ist Hoffnung, Leiden und Frustration und eine Suche nach einem Ideal, die anhält, überall, nicht nur in der Ukraine. Das gilt für den gesamten postsowjetischen Raum. Es gibt kein Lehrbuch, wie man ihn richtig macht, aber auf eine Regel kann man sich verlassen: Wer sich nicht so verhält, wie sich der Westen das vorstellt, wird abgewatscht. Wer die richtigen Schlüsselwörter benutzt, gilt als Freund.
Mit Realitäten hat das alles nur sehr wenig zu tun.
Die verhängnisvolle Logik, dass der Feind meines Feindes ein Freund ist, die schon im Nahen Osten soviel Unheil anrichtete, ist auch in der westlichen Ukraine-Politik lebendig.
Anders als die vorherrschende Meinung, glaube ich nicht an den Kampf bis zum letzten Blutstropfen. Es ist weder mein Blut, noch das von Habeck, Scholz oder Biden, das da vergossen wird. Sie merken gar nicht, dass sie so zum Spiegelbild des Aggressors werden. Der US-Präsident schwafelte jüngst beim Hersteller der Javelins (ein Panzerabwehrsystem) über die ukrainischen Babys, die nach dieser Waffe benannt würden, winzige Javelins und Javelinas, deren Kindergarten nun der Krieg ist, den ihre Väter mit den Javelins für uns führen und gewinnen sollen. Dass die kleinen Javelins und Javelinas dabei sterben könnten oder deren Väter und Mütter, dass demnächst überhaupt kaum noch Kinder in der Ukraine geboren werden, weil im Krieg alles stirbt, die Menschlichkeit, die Liebe, wird ausgeblendet. Wir buchen diese Schuld gedanklich einfach auch auf Putins Konto, denn der hat schließlich angefangen und der muss dafür den Preis zahlen, koste es, was es wolle.
Niemand weiß heute, welche Schrecken aus all dem noch entspringen werden.
Und schließlich: Die atomare Drohung existiert diesseits und jenseits des Atlantiks. Daher ist es auch völlig bedeutungslos, wer am Ende Recht gehabt hätte, der Westen oder die Russen, wenn die Kriegsparteien es laufen lassen und es zur dieser Eskalationsstufe käme. Wir können das ignorieren, wir können das als schicksalhaft ansehen oder wir können uns erinnern, dass wir unser Schicksal selbst in der Hand halten.
Das ist für mich Grund genug, die Vernunft einzuschalten, um erneut eine der Wenigen zu sein. Aber vielleicht sind wir ja auch sehr viel mehr.
Es ist schwer, die Fassung nicht zu verlieren, wenn man Steinmeiers Rede zum 8. Mai hört. Er sprach von dem Angriffskrieg als einem Epochenbruch. Wo war er, als der Irak angegriffen, Belgrad bombadiert und Afghanistan zerstört wurden? Das gemeinsame europäische Haus sei gescheitert, ein Alptraum an seine Stelle getreten. Putin hätte die europäische Friedensordnung zerstört. Niemand sonst? Die Nato ein Friedensbündnis? Brzezinski nicht gelesen? Brandreden amerikanischer Politiker nicht gehört? Geostrategische Abschussrampen in Polen und anderswo übersehen?
Ursachen und Hintergründe werden von ihm ausgeklammert und mahnende Worte früherer US-Diplomaten ignoriert. Die Stahlgewitter haben bereits begonnen und immer noch mehr vom selben: Schwere Waffen, Sanktionen und weitere Eskalation mit dem Ziel, US-Interessen zum Sieg zu verhelfen. Europe the battlefield... Alarmstufe Rot
Danke für die Diskussion der Reaktionen auf den Brief und die historischen Hintergründe. Diese werden im Brief nicht thematisiert, sind aber entscheidend um zu verstehen, wie man den Konflikt beilegen und eine katastrophale Eskalation verhindern kann. Im Artikel habe ich keinen Hinweis auf den Brief selber gefunden, deshalb hier der Link zum Original (dort ist auch ein Verweis auf change.org, wo man sich dem Brief anschließen kann): https://www.emma.de/artikel/offener-brief-bundeskanzler-scholz-339463