Aktuell sind wir Zeugen einer Entwicklung, die man kaum vorhersehen konnte. Nach der völkerrechtwidrigen Intervention der NATO im Kosovo 1999 sind wir erneut Zeuge eines flagranten Bruchs des Völkerrechts auf europäischem Territorium. Diesmal ist es Russland, das die Regeln der UN-Charta verletzt. Diesmal geht es um die Ukraine.
So richtig und verständlich alle Empörung, Betroffenheit, aber auch mitschwingende Ängste, was wohl die Zukunft bringen mag, darüber sind, so falsch und verheerend ist es, dem heißen Herzen zu folgen und Politikentscheidungen zu treffen, die so weitreichend sind, dass niemand mehr ihre Folgen kalkulieren kann. Wie im Twittermodus hat der deutsche Bundeskanzler die deutsche Außenpolitik gegenüber Russland auf den Kopf gestellt. Nicht alle haben geklatscht.
Dabei schreien die aktuellen Ereignisse regelrecht danach, einzuhalten, nachzudenken und sich ganz genau mit der grundsätzlichen Frage zu beschäftigen, in welcher Welt wir morgen leben wollen. Wollen wir uns nur noch waffenstarrend gegenüberstehen, immer misstrauisch, immer der Gefahr ausgesetzt, dass einer Seite die Nerven durchgehen oder irgendwas schiefgeht?
Was passiert ist das Gegenteil von dem, was notwendig wäre: Gerade wird Reflexen nachgegeben, die dem Erschrecken über einen Krieg entspringen, den man selbstverständlich nur verurteilen kann.
Aber Außenpolitik bedeutet nicht, moralischer Entrüstung zu folgen und auch nicht, von Wut und Rachegelüsten getrieben zu werden. Verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik verlangt eine nüchterne Interessenabwägung, die kühle Kalkulation der Chancen und Risiken jedes Schritts. Sie verlangt nach Strategie, nach Denken über den Tag hinaus.
Und sie verlangt Ehrlichkeit: Es ist nicht das erste Mal, das Völkerrecht gebrochen wurde, es wird dauernd gebrochen, aber zum ersten Mal wird aufgeheult, in himmelschreiender Heuchelei. Jawohl, Russland hat das Völkerrecht gebrochen. Dieser Bruch steht in einer Reihe mit allen anderen Völkerrechtsbrüchen der vergangenen Jahre. Jeder einzelne war und ist unverzeihlich.
Aber ich kann mich nicht erinnern, dass wir über unsere Beteiligung am NATO-Einsatz im Kosovo ebenfalls so aufgeheult hätten, dass der amerikanische Krieg gegen den Terror in irgendeiner vergleichbaren Art und Weise kommentiert oder gar sanktioniert worden wäre, obwohl der Millionen Leben kostete und Millionen Flüchtige und Vertriebene nach sich zog. Ich kann mich nicht erinnern, dass der seit 2014 andauernde Krieg im Donbass uns Dauersendungen im deutschen Fernsehen wert war oder zu energischen diplomatischen Missionen gegenüber Moskau und Kiew führte.
Degoutant ist, dass diejenigen mit dem dreckigen Kragen nun so tun, als wäre ihr Hemd blütenweiß. Noch irrwitziger ist, dass einige von denen, die bis gestern Brücken bauten, nunmehr an vorderster Front mitkläffen.
Was wir heute in der Ukraine erleben, ist nicht das Ergebnis westlicher Schwäche. Es ist auch nicht das Ergebnis friedensbewegter Traumtänzerei. Es ist das Produkt einer jahrzehntelangen Konfrontationspolitik, der nun die Ukraine zum Opfer fällt. Es ist das Ergebnis jahrelanger Konfliktanheizung, die Russland zum Paria machte, der nun wie ein Paria handelt.
Der US-Präsident Biden hatte doch allen versichert, mit seiner Machtübernahme werde Russland schon in Schach gehalten. Die Erwachsenen hätten wieder das Ruder übernommen. Er glaubte doch, man könne Abschreckung und Dialog verbinden, den Gegner hassen und gleichzeitig bezähmen. Laufen und gleichzeitig Kaugummi kauen, nannte er das. Dem hat sich die EU und auch Deutschland angeschlossen. Das alles ist krachend gescheitert.
Aber statt sich zu besinnen, nutzen die Architekten des Scheiterns unsere rohen Gefühle der Enttäuschung und auch der Wut über das Geschehen, um die Konfrontation weiter anzuheizen. Hört niemand die Stimmen, vor allem in den USA, die inzwischen regelrecht nach Krieg mit Russland hecheln? Darunter sind ehemalige NATO-Oberbefehlshaber, die so ihre wahre Natur enthüllen. Eine no-fly-Zone über der Ukraine, und es wäre soweit.
https://foreignpolicy.com/2022/02/27/breedlove-nato-commander-russia-ukraine-war/
Noch steht das Weiße Haus und hält das für keine gute Idee. Aber im Fall Afghanistan haben wir gelernt, dass die Versicherungen des Weißen Hauses eine kurze Verfallszeit haben. Bringt das hier niemanden zur Besinnung?
Wenn wir in Deutschland etwas jetzt notwendiger denn je brauchen, dann einen Plan für einen dauerhaften Frieden in Europa, nicht gegen Russland, sondern mit Russland. Wenn wir jetzt etwas notwendiger denn je brauchen, dann eine Stärkung der Vereinten Nationen, damit die Charta nie wieder gebrochen wird. Von niemandem.
Wir müssen die Herrschaft des Rechts über die Herrschaft militärischer Macht setzen. Wir dürfen nicht länger zulassen, dass der Atomwaffenbesitz zur letzten Schranke zwischen Krieg und Frieden geworden ist.
Noch mehr Konfrontation kann nicht zur Lösung taugen, wenn wir in verlässlichem Frieden leben wollen.
Es ist höchste Zeit, zur Größe des J.F. Kennedy zurückzufinden, der am 10. Juni 1963 seinen Plan für eine Neuordnung der internationalen Beziehungen vorlegte.
Es ist Zeit, sich an den Friedensschluss zwischen Gorbatschow und Reagan zu erinnern, Zeit, die Ambitionen der Charta von Paris 1990 aus der Schublade zu holen, die dort seit über 30 Jahren verstauben.
Es ist Zeit, jenen das Handwerk zu legen, die die Weltgemeinschaft aufgeben und die Welt in ewig verfeindete Stämme aufteilen wollen.
So könnten wir die Ukraine retten, Russland vor sich selbst und so könnten wir auch uns retten und am Ende womöglich die Welt.
PS
Ein sehr bedenkenswerter Artikel erschien in den USA. Sehr vielem, was der Autor zu sagen hatte, stimme ich zu.
https://scholars-stage.org/pausing-at-the-precipice/
Besonnenheit statt Schießschartenmentalität; an Kissinger denken, der gesagt hat, einen Krieg beginnen ist leicht, ihn zu beenden ungleich schwerer und mit Blick auf die Zukunft einer Einteilung der Welt in Gut und Böse widersprechen. Das sind die Voraussetzungen für ein Ende von Wettrüsten und Eskalation. Danke für die großartigen Gedanken, Petra
Bravo, Petra!!!!!!!!!!!!!!!!!!
Dein Artikel spricht mir aus der Seele!