2019 simulierte die Princeton Universität im „Plan A“, was ein konventioneller Krieg zwischen den USA und Russland, der zum Nuklearkrieg entartet, bedeuten würde: Innerhalb weniger Stunden wären über 90 Millionen Menschen tot oder verwundet. Der europäische Kontinent ginge als erster vor die Hunde, „nukleare Teilhabe“ sozusagen.
„Plan A“ sah nicht vor, dass beide Seiten ihr Nukleararsenal leerten. Er enthielt ausdrücklich auch nicht die Folgen der Feuerstürme, des radioaktiven Niederschlags und des anschließenden nuklearen Winters.
Zu den Folgen eines „kleinen“ nuklearen Schlagabtauschs zwischen Indien und Pakistan gab es ebenfalls eine Studie. Selbst wenn beide Staaten „nur“ Atombomben der Stärke von Hiroshima einsetzen würden oder nicht alle Atomwaffen nutzten, so die Wissenschaftler, wären die Konsequenzen global. Die Oberflächentemperatur in großen Teilen der Erde würde auf Jahre auch im Sommer unter Null Grad Celsius liegen. Milliarden Menschen würden hungern oder verhungern. Die Wissenschaftler hatten zu dem Zeitpunkt auch nicht alle Konsequenzen evaluiert.
https://climate.envsci.rutgers.edu/pdf/IndiaPakistanBullAtomSci.pdf
Russland und die USA verfügen heute über Atomwaffen, die die Stärke der in Hiroshima und Nagasaki eingesetzten Bomben um das 500- bis 1000fache übertreffen. Die Bilder, die wir von diesen zerstörten japanischen Städten sahen, entsprechen nicht auch nur annähernd mehr der furchtbaren Verwüstung, die ein heutiger Nuklearkrieg zwischen beiden Seiten bedeuten würde. Das Grauen überstiege alles, was wir bisher als absolut verurteilungswürdig betrachten: Die Katastrophe zweier Weltkriege, die systematische Vernichtung der Juden und allen „unwerten“ Lebens, jeder einzelne der viel zu vielen Genozide auf dieser Erde.
Es war die Einsicht in die Monstrosität jeder Atomkriegsplanung, die den amerikanischen Präsidenten Kennedy 1963 nach einem neuen Weg des Zusammenlebens mit der damaligen Sowjetunion suchen ließ. Er konnte seinen Plan vom 10. Juni 1963 nicht verwirklichen. Nur wenige Monate später wurde er ermordet.
Der zweite Versuch, die Welt vom Abgrund der nuklearen Abschreckung wegzuführen, verband sich mit dem Ende des Kalten Krieges. Damals wurden zwischen den USA und der Sowjetunion strategische Abrüstungsinitiativen auf den Weg gebracht, die Konvention zur Abschaffung der Chemiewaffen verabredet und um Fortschritte bei der Verifizierung dessen, was in Biolaboren weltweit geschieht, gerungen.
Gleichwohl entstand 1991 mit der kollabierenden Sowjetunion ein neues weltweites Risiko: Niemals zuvor war eine bis an die Zähne bewaffnete Atommacht zerbrochen. Würde ein Zerfall des großen Reiches zu Nationalitätenkonflikten führen, die atomar ausgetragen werden könnten? Allein die Atomwaffen waren damals auf vier Republiken verteilt. Was wäre, wenn Teile des militärischen Arsenals in die Hände von Hasardeuren und Terroristen gelangen würde? Was würde aus Ostdeutschland, wenn die dort noch stationierten Verbände außer Rand und Band gerieten? Was würde mit den Wissenschaftlern werden, die wussten, wie man Atombomben baut oder Chemiewaffen? Zudem hatte es im Sommer 91 einen Militärputsch gegeben.
Nur wenige scheinen damals das Ausmaß der Gefahr erkannt zu haben. Im öffentlich zugänglichen Teil des Archivs des 41. US-Präsidenten Bush findet sich kein Hinweis, dass es dazu eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates der USA gab.
Die Kalten Krieger feierten 1991 den Sieg über „die Kommies“ und dachten nicht im mindesten an die potentielle Gefahr.
Abgewendet wurde sie von den politischen Akteuren in der zusammenstürzenden Sowjetunion. Sie sicherten eine lückenlose Kontrolle über die Entscheidung zum Einsatz von Atomwaffen und die Kontrolle über das Militär. Teil des Zusammenbruchs und Neuanfangs war der Beschluss, dass Russland das Erbe der Sowjetunion antreten und zum Rechtsnachfolger würde, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergaben, von der Nachfolge des Sitzes im Sicherheitsrat bis zum Schultern der politischen Lasten, die die Geschichte der Sowjetunion und des Kalten Krieges mit sich bringen. Aus dem Georgier Stalin wurde der russische Stalin und dessen Verbrechen. Im Bild des Westens konnte sich die Gleichsetzung der Sowjetunion mit Russland ungestört fortsetzen: alles eins, alles Russen.
Was Jelzin damals Bush mitteilte, findet sich hier.
https://bush41library.tamu.edu/files/memcons-telcons/1991-12-23--Yeltsin.pdf
Aber auch Gorbatschow, der in seinem Bemühen, den Vielvölkerstaat in einer Föderation zusammenzuhalten, gescheitert war, telefonierte und versicherte dem US-Präsidenten vor allem, die Welt sei sicher. Er könne zu Weihnachten friedlich schlafen.
https://bush41library.tamu.edu/files/memcons-telcons/1991-12-25--Gorbachev.pdf
Statt diese historische Leistung um den Weltfrieden zu würdigen, wie der alte Bush damals Gorbatschow versicherte, verschwand sie im Müllkorb westlicher Vergesslichkeit.
Schon die NATO-Deklaration 1991 war von hinreichender Ambiguität: Einerseits proklamierte man den Willen zu einem „Europa, ganz und frei“ (Anm.: Russland eingeschlossen), andererseits verabredete man eine neue Militärstrategie, die eben nicht davon ausging, dass die Gefahr „aus dem Osten“ gebannt wäre (vgl. Punkt 13).
https://www.nato.int/docu/comm/49-95/c911108a.htm sowie
https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_23847.htm
Der Vollständigkeit sei hinzugefügt, dass in den USA im Jahr 1992 die Finanzierung von Abrüstungs- und Konversionsprojekten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion beschlossen wurde.
Heute liegt das Meiste der damaligen Abrüstungsinitiativen der „Wendezeit“ in Trümmern. Neuartige, nicht weniger gefährliche Waffen sind hinzugekommen, der Weltraum wird als neue Dimension der geopolitischen Rivalitäten erschlossen. Die Hetze gegen alles und jeden, der in den vergangenen Jahren einer verlässlichen Friedensordnung in Europa und in der Welt das Wort redete, wird mit jedem Tag stärker. Irrationalität scheint die neue Vernunft.
Mitten im Ukraine-Krieg erinnerte jüngst die NYT an die traurigen Helden des amerikanischen Drohnenkriegs. Am 17. April twitterte sie eine Kurzfassung Ihres Artikels „The unseen scars of those who kill via remote control“ (Die unsichtbaren Narben derer, die per Fernsteuerung töten)
Darin stand:
„Drone crews have killed more people than nearly anyone else in the military in the past decade, but they seldom got the same recovery periods or mental-health screenings as other fighters…”
Übersetzung:
Drohnenbesatzungen haben in den letzten zehn Jahren mehr Menschen getötet als fast jeder andere beim Militär, aber sie erhielten selten die gleichen Erholungszeiten oder psychischen Untersuchungen wie andere Kämpfer …“
Die NYT kommt nicht auf die Idee, den ferngesteuerten Auftragsmord abzuschaffen. Der Drohnenkrieg muss sein. So ist das eben in unserer ver-rückten Welt.
In einem Artikel in der neusten Ausgabe von Foreign Affairs legte Kagan, ein einflussreicher US-Hegemonialstratege nieder, was er vom Krieg Russlands in der Ukraine hält und welche Antwort die USA darauf finden sollten.
https://www.foreignaffairs.com/articles/ukraine/2022-04-06/russia-ukraine-war-price-hegemony
Gänzlich „unprovoziert“ sei dieser Krieg nicht, meint Kagan, aber Russland sei selber schuld, weil es sich nicht der US-Hegemonie fügen wollte. Schließlich seien die Franzosen, die Briten, die Deutschen und auch die Japaner damit gut gefahren. Nun aber müsse der Hegemon handeln und dürfe auch nicht davor zurückschrecken, dass Russland eine Nuklearmacht sei. Das Risiko einer atomaren Auseinandersetzung sei auch nicht größer, als es 2008 oder 2014 gewesen wäre und Putin werde gewiss nicht die nukleare Auslöschung der Welt riskieren. Wie man an der Ukraine sehe, gibt es schlimmere Dinge als die US-Hegemonie, soweit Herr Kagan.
Leider hat Kagan viel zu viele Brüder und Schwestern im Geiste und leider sind sie nicht unter strengster psychiatrischer Beobachtung.
Wenn man glaubt, dass Putin die menschliche Inkarnation des Bösen ist, einer der einsam am langen Tisch lauert, ohne blassen Schimmer von der realen Welt, dann muss man ja wohl auch annehmen, dass der zum ultimativen Verbrechen fähig ist. Wer so denkt, sollte das stärkste Interesse daran haben, dass die Lage in der Ukraine nicht weiter eskaliert.
Merkwürdigerweise ist das nicht der Fall.
Der Ukraine-Krieg stellt die Frage, was man tun kann, um ihn zu beenden:
Durch die andauernde Bewaffnung der Ukraine?
Durch den Wirtschaftskrieg gegen Russland?
Durch eine direkte militärische Intervention?
Durch einen Friedenschluss mit Russland?
Das sind die verfügbaren Optionen – Nur die ersten drei sind kombinierbar.
Politik und Medien tun derzeit ihr Möglichstes, um einen Friedensschluss mit Russland als Verbrüderung mit dem Feind oder wie Desertieren aussehen zu lassen. Auf so was steht in Kriegszeiten die Todesstrafe. Sonst könnte ja am Ende noch der eine oder andere auf die Idee kommen, zu fragen, ob es das alles wert ist.
Oh ja, meinte die NYT und berichtete, das ukrainische Militär habe beispielsweise gegen ein eigenes Dorf verbotene Streubomben eingesetzt. (Erst bezichtigte man die russische Seite). Nun aber war zu lesen:
Das mussten sie machen, um ihr Land wiederzubekommen, egal, was es kostet”.
(“This is what they needed to do to retake their country, no matter the cost.”)
https://www.nytimes.com/2022/04/18/world/europe/ukraine-forces-cluster-munitions.html
Längst geht es nicht mehr darum, dass Russland diesen furchtbaren Krieg begann. Es geht auch nicht mehr um das Leiden der Ukrainer. Es geht um den totalen Sieg über Russland.
Man kann selbstverständlich glauben, dass das gelingen kann und danach alles gut sein wird, so wie man glauben kann, dass die Sonne im Westen aufgeht.
Wenn man letzteres glaubt, ist man ein armer, minderbemittelter Tropf, aber harmlos.
Das kann man leider von den Protagonisten des immer lauter werdenden Geschreis nach noch mehr Waffen für die Ukraine in Deutschland, bzw. nach direktem militärischem Eingreifen in den Krieg (in den USA) und nach noch mehr ökonomischen Sanktionen so nicht sagen.
Mag ja sein, das Putin längst nicht mehr in der Realität verankert ist, aber die sind es auch nicht. Die glauben inzwischen ihren eigenen Lügen.
2015 enthielt der Bericht der Münchner Sicherheitskonferenz zum Thema Russland ein Zitat von Karaganow, einem russischen Wissenschaftler und einflussreichen Politikberater.
Unter der Überschrift „Russland wird nicht nachgeben“, wird er wie folgt zitiert:
„Das Missverständnis ist, dass dies im Grunde genommen keine Konfrontation um die Ukraine ist. Für Russen ist es etwas viel Wichtigeres: Ein Kampf, um andere bei der Ausdehnung ihrer Kontrollsphäre auf Territorien aufzuhalten, von denen sie glauben, dass sie für das Überleben Russlands von entscheidender Bedeutung sind. Es ist eine Fehlkalkulation, weil Russland viel stärker ist und der Westen viel schwächer, als sich das viele vorstellen. [...] Russland wird nicht nachgeben. Dies ist zu einer Angelegenheit von Leben und Tod unserer Nation geworden.“
Dieser Sichtweise muss man nicht zustimmen, aber man hätte zuhören und nachdenken können. Aber auch das war schon verloren gegangen und kein anderer als ein ehemaliger stellvertretender Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ramesh Thakur, hatte es längst bemerkt. Was der zu sagen hatte, findet sich auch im Münchner Sicherheitskonferenzbericht jenes Jahres:
„Aus Sicht der BRICS ist die Hybris und Arroganz der Politiker im US-geführten Westen so atemberaubend, dass sie kaum zu glauben ist. Es ist, als hätten sie die Fähigkeit verloren zu sehen, wie andere sie sehen. Oder es ist ihnen einfach egal.“
Wer sich nicht mehr anderen Sichtweisen stellt, sie abwägt, darüber nachdenkt und den Dialog sucht, verliert über kurz oder lang die Bodenhaftung. Realitäten werden zu Abstraktionen. Diejenigen, die heute am lautesten nach einem Ausstieg aus der russischen Energieversorgung schreien und längst vergessen haben, dass Deutschland vom Russland-Geschäft profitierte, sind wahrscheinlich die Gleichen, die denken, Strom wohnt in der Steckdose, Tanksäulen produzieren Sprit, Düngemittel fallen vom Himmel und die deutsche Industrieproduktion ist nur ein lästiges Überbleibsel der Industriellen Revolution.
Was waren die Motive für Nord Stream 2, was die der Gegner? Verliert der ukrainische Botschafter auch nur ein Wort des Hasses gegen das russische Gas, das weiter durch sein Land fließt und auch seine Heimat versorgt?
Hätten Polen oder die Ukraine je ein Problem mit Nord Stream 1 und 2 gehabt, wenn die neue Verbindung statt über die Ostsee durch ihre Länder geführt und ihnen so zu Transitgebühren verholfen hätte? Wir reden hier über Milliardenbeträge, die heute in moralische Empörung umgewidmet werden.
Es ging in den vergangenen Schlachten nie um Energiesicherheit, sondern um die Größe der Tortenstücke des Kuchens.
Qua Amtseid ist jede Bundesregierung auf deutsche Interessenpolitik verpflichtet. Aber sie ist genauso darauf verpflichtet, für Frieden in Europa zu sorgen und dieses Europa meint nicht nur die EU (vgl. Art 23 GG). Die Energiepartnerschaft mit Russland war ein Teil dieses Plans, der seine Wurzeln in den 60er Jahren hat.
Das alles wird inzwischen nicht nur als lästiges Apercu behandelt, sondern als nahezu verräterisch betrachtet.
Was passiert, wenn sich deutsche Unternehmen aus dem Russland-Geschäft vollständig zurückziehen? Mag sein, dass es die russische Wirtschaft ins Wanken bringt, aber wir wanken mit.
Russland soll anscheinend aus der Globalisierung herausgeworfen werden, ohne dass wir begreifen, dass dieser Herauswurf uns selber betrifft. Denn der Rest der Welt macht bei diesem Herauswurf nicht mit.
Dieser - in westlichen Augen so sehr zu vernachlässigende Rest - hat seine Wahl getroffen. Das mag man hier nicht hören wollen, aber dieser „Rest“ hat westliche Gängelei und Heuchelei inzwischen gründlich satt. Der erinnert sich, und diese Erinnerung ist lang und schmerzlich, wie die Erinnerung aller, die Opfer wurden, und sie spannt sich manchmal über Jahrhunderte.
Man kann natürlich auch sagen:
Bewahren wir uns vor den Erinnerungen unserer Opfer – es sind zu viele. Und wer weiß, wenn die richtig zornig werden…
Man könnte auch sagen, es gab der Opfer genug.
Man könnte beschließen, Frieden zu machen, jetzt und diesmal für immer.
Das wäre mal was Neues, Kühnes, etwas, was mindestens soviel Mut braucht, wie der Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität. Der Einzelne verliert ihn immer, aber viele können sich gegenseitig schützen.
Es wäre ein Plan B.
Nachtrag: Im März 2022 lag der Erzeugerpreisanstieg bei 30% gegenüber dem Vorjahresmonat. Das ist der höchste Anstieg, der je seit 1949 gemessen wurde. Der Preisanstieg bei Gas war enorm und das ist nur dadurch erklärlich, dass zunehmend Spotmarktpreise wirksam wurden (langfristige Gas-Lieferverträge enthalten Preisbildungsklauseln, die wesentlich stabilere und günstige Energiepreise sichern; deshalb hatte die polnische Regierung im September 2021 ihren Disput mit Gazprom um den Preisbildungsmechanismus beigelegt).
Erzeugerpreisanstiege werden in der Regel an Konsumenten weitergegeben. Ich würde zweistellige Inflationsraten demnächst nicht mehr ausschließen. Der IWF hat bereits seine Wachstumsprognose für D herabgesenkt (2,1%). M.E. besteht die reale Gefahr einer Stagflation. Die Probleme in der Energieversorgung + Preissteigerungen begannen im 2. Halbjahr 2021, vor dem Ukrainekrieg. In den aktuellen Zahlen zeigt sich unter anderem, dass Nord Stream 2 im ökonomischen Interesse Deutschlands lag. Die Beendung als Antwort auf die russische Aggression bedeutet schweren Schaden für unser Land. Wie schwer, ist derzeit nicht absehbar.
https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/04/PD22_172_61241.html
Danke für Deine hervorragende Arbeit, liebe Petra! Und wieder denke ich (zum wievielten Mal eigentlich?), dass das genau die Art von Artikel ist, die in die Leitmedien gehört, oder besser: wie sie uns die Leitmedien SCHULDEN. Leider sind wir davon weiter entfernt als jemals zuvor.