Eine sehr interessante Studie der Johns-Hopkins-Universität sorgte jüngst für mediale Aufregung und Widerspruch. Denn in dieser Studie kamen Wissenschaftler zum Ergebnis, dass durch den Lock Down 2020 kaum Menschenleben (0,2%) gerettet wurden. In ihren Schlussfolgerungen positionierten sich die Autoren ganz eindeutig: Eine solche Politik sollte wegen der komplexen und alles in allem negativen Verwerfungen, die sie in einer Gesellschaft und weltweit hervorrufen, niemals wieder gemacht werden.
Aber wo Verlierer sind, sind auch Gewinner. Allein in den USA ging der Wohlstandstransfer von der breiten Masse hin zu einigen wenigen in die Billionen Dollar.
Ein Ausgangspunkt der Autoren war, dass sie die Modellierungen des Imperial College, London, vom März 2020 hinterfragten, die damals eine humanitäre Apokalypse an die Wand malten, wenn kein Versuch der Virusunterdrückung oder wenigstens der Begrenzung der Virusausbreitung unternommen würde. In dieser Modellierung spielten keine anderen gesellschaftlichen Konsequenzen eine Rolle. Es hieß lapidar, die würden gewaltig sein („profound“). Das gesamte Modell hatte, wie sich später herausstellte, seine Tücken, besser ausgedrückt, es war falsch.
https://www.imperial.ac.uk/media/imperial-college/medicine/mrc-gida/2020-03-16-COVID19-Report-9.pdf
Auch die deutschen Lock Down-Regeln hatten die Reduzierung von Infektionen und Todeszahlen zum Ziel. „So retten wir Leben“, erklärte damals die Bundeskanzlerin.
https://www.bundesregierung.de/breg-de/leichte-sprache/22-maerz-2020-regeln-zum-corona-virus-1733310
Die neue Johns-Hopkins-Studie ist nicht die erste, die bemängelt, dass Lock Downs ohne entsprechende Datengrundlage und ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt wurden.
https://anthrosource.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/maq.12599
Tatsächlich ist es sogar so, dass Lock Downs zum ersten Mal zur Bekämpfung einer Pandemie gewählt wurden. Die eigentliche Frage ist, wie es dazu kam.
Denn die Schlussfolgerungen der Studienautoren von der Johns Hopkins stehen im Einklang mit Forschungsergebnissen einer WHO-Arbeitsgruppe aus dem Jahr 2006. Diese WHO-Arbeitsgruppe hatte sich mit öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen im Fall einer Grippeepidemie auseinandergesetzt und auch historische Erfahrungen im Umgang mit der Spanischen Grippe aufgearbeitet. Damals half nichts, weder Schulschließungen noch Reiseverbote, weder Kirchenschließungen noch die Selbstquarantäne ganzer Ortschaften. Nur die Wahrung eines sozialen Abstands schien einen Effekt zu haben.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3291415/
Auch der (Grippe-)Pandemieplan der USA aus dem Jahr 2005 enthielt kein solches Instrument.
https://www.cdc.gov/flu/pdf/professionals/hhspandemicinfluenzaplan.pdf
Im Jahr 2005 findet man allerdings eine Erklärung für das, was 15 Jahre später geschah. Damals herrschte Angst vor einer heraufziehenden Pandemie. Entweder die Vogelgrippe oder eine Influenzapandemie würden kommen. Dafür wollte die Welt gewappnet sein. Auch der US-Kongress beschäftigte sich mit dem Thema.
https://www.govinfo.gov/content/pkg/CHRG-109hhrg24906/pdf/CHRG-109hhrg24906.pdf
Einer der Experten, der bei einer Anhörung auftrat, hieß Osterholm. Der hatte zuvor einen Artikel in Foreign Affairs veröffentlicht. Osterholm war sich in zwei Punkten absolut sicher: Eine Pandemie würde kommen und sie würde die Welt verändern. Man würde versuchen, alles dicht zu machen (was wahrscheinlich nichts nützen würde) und es würde Panik geben. Er plädierte für eine bessere Pandemievorbereitung. Denn nach der nächsten Pandemie würde sich die Politik rechtfertigen müssen, und sie sollte sich deshalb bereits jetzt mit der Frage beschäftigen, wie dann das Urteil ausfallen könnte, schrieb damals Osterholm.
Osterholm sollte Recht behalten, zumindest insoweit, dass die Welt auf den Kopf gestellt werden würde.
Als die Pandemie nicht länger zu leugnen war, die Illusion der „Kontrolle“ der Virusverbreitung schwand, wurde panisch die Notbremse gezogen. Keiner war vorbereitet und jeder erweckte bienenfleißig den Eindruck, „zu handeln“.
Denn die zuständigen öffentlichen Stellen im Westen, aber auch die WHO, hatten die Gefährlichkeit der Lage sträflich unterschätzt. Alle glaubten viel zu lange, dass das Virus in den westlichen Staaten „unter Kontrolle“ gebracht werden könne. Man machte sich allenfalls Sorgen um die Ärmsten der Armen der Welt. Das zuständige Expertengremium bei der WHO verabredete am 30. Januar 2020, sich in drei Monaten regulär wiederzutreffen (falls nicht neue Entwicklungen eintraten).
Es war den Initiatoren eines Lock Downs offenbar egal, dass der Kampf gegen die Pandemie damit auf dem Rücken der Schwächsten der Gesellschaft ausgetragen wurde, also jener, die sich nicht im Home Office vor dem Virus verstecken konnten und jener, die über Nacht plötzlich ihre Einkommensgrundlage verloren. Der wirtschaftliche und soziale Kollateralschaden spielte keine Rolle. Denn es ging ja um ein nobles Ziel: Menschenleben mussten gerettet werden. So wurde die menschliche Urangst vor dem Tod instrumentalisiert, jeder als bedroht dargestellt, obwohl schon damals bekannt war, dass das Virus vor allem die Alten fraß. Die wenigen, die die Lock Downs infrage stellen, wurden als gewissenlos und unmoralisch abgekanzelt.
Anm.: Ich habe ursprünglich den Lock Down 2020 befürwortet. Es war die Bürde für die Kinder, die in einem Interview am 24. März 2020 angesprochen wurde, die mich nachdenklich werden ließ.
https://eu.usatoday.com/story/news/nation/2020/03/24/covid-19-texas-official-suggests-elderly-willing-die-economy/2905990001/
Während die westliche Staatengemeinschaft selig verschlief, dass der Fuchs längst im Hühnerstall war, tauchten bereits Warnungen vor Desinformation auf. Am Anfang stand möglicherweise die scheinbar notwenige Überlegung, dass man eine Pandemie nicht mit einem Haufen durcheinander quakender Frösche bewältigt, sondern mit „Führung“.
Die sozialen Medien wurden als Problem identifiziert. Die WHO sprach deshalb im Februar 2020 davon, dass Falschinformationen genauso gefährlich wären, wie das Virus. Ein Artikel des Guardian im März 2020 diskutierte diesen Gedanken der WHO und erinnerte daran, dass die guten alten Zeiten, in denen Behörden und Medien die „Torwächter“ von Informationen waren, wegen des Internets nicht mehr funktionieren.
Weder den Pandemiestrategen noch vielen Medien kam allerdings in den Sinn, dass sie irren, dass ihre Prämissen und sich darauf gründende Handlungsempfehlungen komplett falsch sein könnten. Wenn jemand irrte, dann andere und immer dort, wo die Torwächter nicht parat standen
Im März 2020 wurden die Experten, die die Pandemie verschlafen hatten, zu ihren „Erklärern“ und alles, was bestimmte Experten (und offizielle Stellen) von sich gaben, galt nunmehr als „die Wahrheit“. Die allermeisten Medien spielten mit, soziale Medien spielten mit und so wurden Standards gesetzt: was „Wissenschaft“ war (Wahrheit) und was nicht.
Die Zunft der Kommentatoren und Faktenchecker erblühte, wobei Fakten und Meinungen munter durcheinander gingen und auch vor persönlichen Angriffen nicht halt gemacht wurde.
So wurde die pandemische Welt in das Gute (das herrschende Pandemiebekämpfungsnarrativ) und das Böse (die „Abweichler“) aufgeteilt und dazwischen klafft inzwischen eine riesige Leere.
Das ist kein neues Prinzip. Es wurde bisher vor allem in der Außenpolitik praktiziert, nunmehr aber schlug es zu Hause zu.
In der Psychologie wird ein solches Schwarz-Weiß-Phänomen mit einer Bewusstseinsstörung assoziiert.
Liebe Petra, danke für diesen erhellenden Beitrag (wie auch für alle anderen). Ich möchte sie immer gern mit anderen Menschen teilen und besprechen, erlebe aber sehr oft, dass sie nicht nachdenken oder etwas infrage stellen wollen. Schade! - Der Friedensforscher Daniele Ganser hat übrigens in seinem Vortrag über China und Corona https://www.youtube.com/channel/UCgrHgV7atBftQk8dXwIDktg sehr interessante Zusammenhänge hergestellt und sieht in der Coronapolitik und den damit verbundenen Maßnahmen eine echte Gefahr für die Demokratie und Hinwendung zum digitalen Überwachungsstaat.
Liebes Substack, bitte richte doch die Funktion ein, ein Like-Plus anklicken zu können. ;-) Ich war damals auch für den Lockdown. Und war es lange noch. Liebe petra, Dein Text wirft da ein neues Licht drauf, nicht ganz neu in einigen Aspekten. Danke dafür.