„Wir wollen eine Kultur des Respekts befördern – Respekt für andere Meinungen, für Gegenargumente und Streit, für andere Lebenswelten und Einstellungen.“ (Quelle: Koalitionsvertrag)
Großartig! Ich bin dafür.
Aber gilt das auch für die Corona-Strategie?
Wie kam es zu den 2G- und 3G-Regelungen? Wie kam es dazu, dass die Pandemie zur „Pandemie der Ungeimpften“ wurde, als wäre dieser kleine Rest der Bevölkerung an allem schuld, was sich in Deutschland derzeit abspielt. Wo kommt diese schäbige Debatte her, die Menschen gegeneinanderhetzt und verhindert, dass wir uns voll auf den Feind, das Virus konzentrieren?
Wer gräbt, wird beim RKI fündig.
Im Epidemiologischen Bulletin 27/21 wurde die Frage gestellt, welche Impfquote notwendig ist, um die Pandemie in Deutschland zu kontrollieren. Selbstverständlich konnte es sich dabei nur um Modellierungen handeln. Jedenfalls begründete das RKI, dass bei einer Impfquote von mindestens 85% der 12 – 59-Jährigen bzw. 90% der ≥ 60-Jährigen die Pandemie unter Kontrolle gebracht werden könne. Es erläuterte, dass aus den vorliegenden „Daten abgeleitet werden (könne), dass die COVID-19-Impfung eine Virustransmission in erheblichem Maße reduziert und dass vollständig geimpfte Personen in Bezug auf die Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr spielen.“
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/27_21.pdf?__blob=publicationFile
Diese Annahme wiederum gründete sich auf eine Auswertung vorhandener wissenschaftlicher Studien, die im April 2021 veröffentlicht wurde. Darin hieß es zusammenfassend:
„Auch wenn das Risiko einer Infektion (Anm: nach vollständiger Impfung) deutlich reduziert ist, so handelt es sich nicht um eine sog. sterile Immunität. Es muss davon ausgegangen werden, dass einige Menschen nach SARS-CoV-2- Exposition trotz Impfung PCR-positiv getestet werden und potenziell das Virus auch weiterverbreiten können. Das Restrisiko einer Übertragung kann jedoch durch zusätzliche Maßnahmen (Einhalten der AHA+L-Regeln, Selbstisolierung bei Symptomen) zusätzlich reduziert werden.
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/19_21.pdf?__blob=publicationFile
Nun hat die Wirklichkeit die damaligen Annahmen überholt. Bemerkenswert ist an den damaligen Modellierungen allenfalls noch, dass das RKI sich mit den „Genesenen“ überhaupt nicht beschäftigte.
Heute verfolgt das RKI nicht, welchen Beitrag Geimpfte bzw. Ungeimpfte am generellen Infektionsgeschehen spielen. Es konzentriert sich vielmehr auf die symptomatisch Erkrankten, die Hospitalisierungs- und Sterberate der geimpften und der ungeimpften Bevölkerungsteile. Das ist legitim, aber auch im neuen Bezugsrahmen ist klar, dass die Impfeffektivität sehr viel geringer ist, als vom RKI damals angenommen. Im aktuellen Wochenbericht des RKI wird das auch eingeräumt.
Trotzdem gibt es weiter die 2G und 3G Regeln, die, pandemisch betrachtet, ihre Schwachstellen haben. „Geimpft“ suggeriert eine Sicherheit vor Infektion, die nicht besteht. Alle wissen inzwischen, dass Geimpfte andere infizieren können, aber es werden keine Schlussfolgerungen daraus gezogen. Bei 3G müssen ungeimpfte Menschen sich testen lassen. Dieses Ergebnis ist ein vorübergehendes Indiz der eigenen Gesundheit. Geimpfte dagegen gelten als gesund, egal ob sie das Pech hatten, vom Virus erwischt zu werden oder nicht. Haben sie es, können sie im 3G-Rahmen sowohl Geimpfte als auch Ungeimpfte infizieren. Bei 2G gilt das analog. Hier sind Geimpfte und Genesene unter sich. Bei 2G infizieren sich vor allem Geimpfte untereinander und tragen ebenfalls das Virus weiter. Nur die Testung aller würde allen aktuelle Sicherheit bieten. Aber da das natürlich den indirekten Impfdruck aushöhlt, macht man das nicht. Das Ergebnis kann man dann an der Entwicklung der Fallzahlen sehen, die mich äußerst beunruhigen.
Ich wüsste zudem gerne, was mit Menschen passiert, die sich derzeit bei dieser hohen Viruslast impfen lassen. Was passiert, wenn sie noch nicht hinreichend impfinduzierte Antikörper haben, aber auf das inzwischen allgegenwärtige Virus treffen? Was passiert dann?
Die „Genesenen“ sind ein Kapitel für sich. Sie haben, je nach Studienlage, mindestens eine ebenso starke, wenn nicht stärkere Immunität gegenüber dem Virus als Geimpfte.
Die Überlebenden im Kampf gegen das Virus werden in Deutschland nur 6 Monate lang als immun angesehen. Danach verfällt dieser Status und sie müssen entscheiden, ob sie sich impfen lassen oder als „Ungeimpfte“ öffentlichen Attacken ausgesetzt sind. Gerade dieser Bevölkerungsgruppe, in der viele Menschen erkrankten, als es noch gar kein Impfangebot gab, wird so zutiefst Unrecht getan. Ganz zu schweigen davon, dass die Wissenschaft längst klüger ist, als deutsche Gesetzesfristen.
Ein streitbarer Artikel im BMJ erläutert das Für und Wider der gesundheitspolitischen Behandlung Genesener in den USA (sie werden dort völlig ignoriert). Er vermittelt den Eindruck, dass zu viele lediglich auf die Menge der Antikörper schauen und sich nicht mit dem etwas komplizierteren Funktionieren des menschlichen Immunsystems beschäftigen, aber auch, dass es schlicht einfacher ist, zu impfen, als den Überblick über die „Genesenen“ zu behalten.
https://www.bmj.com/content/374/bmj.n2101
Der „Schutz der Herde“, der ja unzweifelhaft richtig und notwendig ist, um dem Virus erfolgreich die Stirn zu bieten, wird meiner Meinung nach wohl auf breiteren Schultern ruhen müssen: auf Geimpften und Genesenen.
Was aber ist mit den Geimpften, die sich trotz Impfung infizierten bzw. infizieren?
Ich dachte lange, dass ein Impfvorteil auch darin besteht, dass man in diesem Fall nicht nur ein geringeres persönliches Risiko schwerer Erkrankung hat, sondern auch eine robuste Immunität erwirbt. Das scheint aber nicht ganz zu stimmen. Nach britischen Daten bilden geimpfte infizierte und dann genesene Menschen nicht notwendigerweise eine Immunität gegen das gesamte Virus aus. Die Mehrheit, derzeit 70%, entwickelt keine Antikörper gegen die Virushülle. Ob das epidemiologisch bei künftigen Virusvarianten bedeutsam ist, ist nicht erforscht. Die Briten beobachten es jedenfalls sehr aufmerksam.
sowie
https://www.journalofinfection.com/article/S0163-4453(21)00394-7/fulltext
Derzeit kann man nicht auszuschließen, dass weitere Virusmutationen am Spikeprotein auch diesen Immunschutz unterlaufen könnten. Das sollte man im Hinterkopf haben, wenn es um die Impfung von Kindern und Jugendlichen geht. Für ältere und fragile „Ungeimpfte“ dagegen ist die „natürliche“ Infektion wie russisch Roulette, allerdings mit mehr als einer Kugel im Lauf.
Teil IV folgt…
Danke für die Recherche und die kluge Aufarbeitung der bis dato verfolgten Strategien. Ich würd e mir sehr wünschen, dass die Politik und die Wissenschaft differenziert. Und beispielsweise die bislang ungeimpften Genesenene fragt, ob sie der Wissenschaft als Probandengruppe zur Verfügung steht, um deren Immunität im vergleich zu der der Geimpften und Geimpften genesenen usw... zu vergleichen. Ich weiß nicht, ob mein Eindruck trügt, aber mir scheint, in D wird wenig gefragt, werden relativ wenige StudienteilnehmerInnen gesucht und angefragt. Wir hatten sehr früh die britische Variante - da gab es überhaupt keine Anfragen, ob man Verlauf und Nachverlauf dokumentieren könne.
Ich bin gespannt auf Teil IV und fühle mich von allen drei Teilen sehr gut begleitet. Danke. J.W.