Wegen der Rede des Bundespräsidenten zum 8. Mai 2022 habe ich noch einmal die Rede des damaligen Bundespräsidenten von Weizäcker aus dem Jahr 1985 gelesen.
Von Weizäcker hielt sie unter den Bedingungen der Systemkonfrontation und des Kalten Krieges, Steinmeier unter den Bedingungen der russischen Aggression gegen die Ukraine.
Ich frage mich, welche Rede von Weizäcker heute gehalten hätte.
Aber spätestens, als Steinmeier erklärte…
„Denn auch das ist eine Lehre des 8. Mai 1945: dass wir Europäer uns nicht noch einmal auseinandertreiben lassen durch aggressiven Nationalismus und Völkerhass! Nationalismus, Völkerhass und imperialer Wahn dürfen nicht die Zukunft Europas beherrschen. Das müssen wir verhindern!
war klar, dass Russland im Europabild des aktuellen Bundespräsidenten keinen Platz mehr hat.
Der Bundespräsident hat zweifellos versucht, das Auseinandertreiben der Europäer mit seinen Verhandlungen auf dem Maidan, mit seinem Ringen um Minsk II, mit seiner Formel für dessen leichtere Verwirklichung zu verhindern. Aber statt das wie eine Ehrennadel zu tragen, bekannte er sich schuldig. Nicht etwa dafür, nicht genug getan zu haben, sondern dafür, es versucht zu haben.
Das ist eine merkwürdige Erinnerungspolitik.
Deutsche Medien analysierten die Rede von Putin anlässlich des 9. Mai, an dem der Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus begangen wird, und auch das erfolgte merkwürdig geschichtslos. Die FAZ redete von der „Mythologie eines Sieges“ und schrieb zusammenfassend: „Präsident Putin hat die Feier zur Legitimierung seiner imperialen Ansprüche umgedeutet. Dabei ist der Diktator dem völkischen Wahn des Faschismus sehr nahe.“
Es sei keine Hurra-Rede gewesen, vermeldete der Spiegel, so als hätte der erwartet, dass Putin vor Begeisterung über den Ukraine-Krieg sich in Rage brüllt.
https://www.spiegel.de/ausland/wladimir-putin-und-seine-rede-zum-9-mai-die-rechtfertigung-a-5e48ba51-1ae7-4f2d-aafe-50ffc729987d
Putin wiederholte, was er bereits im Februar 22 erklärte: Die russische Führung war zur Schlussfolgerung gelangt, dass es um die Existenz Russlands gehe. Nicht mehr und nicht weniger. (Das kann man anders sehen, aber Moskau sah es so.)
http://en.kremlin.ru/events/president/news/68366
Putin erklärte erneut, die US-dominierte Weltordnung nicht zu akzeptieren. Auch das ist nicht neu. Das kennen wir aus München, seit 2007.
Der 9. Mai war bereits in der Sowjetunion der wichtigste Feiertag. Denn die Sowjetunion bezahlte den höchsten Preis für den Sieg über den Hitlerfaschismus, jede einzelne Familie.
Niemand weiß genau, wie viele sowjetische Opfer dieser Krieg, der von Hitler-Deutschland angezettelt wurde, forderte: Waren es 25 Millionen, 27 Millionen oder 30 Millionen Tote?
Heute teilen wir sie auf, diese Toten, in Weißrussen, Ukrainer, Russen und so weiter, aber das verschleiert nur den eigentlichen Kern: Die Völker der Sowjetunion starben lieber, als sich der Hitlerbarbarei zu ergeben. Kein anderes Volk hat einen so hohen Blutzoll bezahlt, im Widerstand gegen die deutschen Faschisten und für die Befreiung Deutschlands von der verbrecherischen Macht der Nazis.
Nicht nur in Deutschland wird das bis heute gern übersehen.
Es gab einen Kniefall in Warschau, und das war richtig. Den Kniefall in Moskau oder Leningrad gab es nie.
2014 bei der Olympiade in Sotschi, enthielt die russische Präsentation (angeblich von Putin gebilligt) nicht einen Verweis auf den Zweiten Weltkrieg, wohl aber einen musikalischen Bezug auf Peter den Ersten und die Preußen.
Aber das hat auch keiner bemerkt.
Unseren britischen Freunden sei zugerufen: Auch Euch gegenüber ist Nazi-Deutschland schuldig geworden. Viele Briten haben ihr Leben gegeben. Mit Euch haben auch Polen gekämpft. Was wärt Ihr ohne die polnischen Flieger gewesen? Und was habt Ihr mit ihnen gemacht, als der Kalte Krieg die Allianz gegen Hitler zum Zerbrechen brachte? Diese tapferen polnischen Piloten durften nicht an der Siegesparade in London 1946 teilnehmen, denn nun gehörten sie zum Feind. Sie mussten vom Straßenrand zusehen, und sie weinten.
https://www.iwm.org.uk/history/the-polish-pilots-who-flew-in-the-battle-of-britain
2003 gab es einen offiziellen Entschuldigungsbrief.
Auch das ist nicht Teil der europäischen Erinnerung.
Unseren amerikanischen Freunden sei zugerufen: Ja, auch Ihr habt uns befreit. Aber die Verbrüderung an der Elbe dauerte nicht an; Sehr schnell wart Ihr bienenfleißig beschäftigt, im Untergrund zu wühlen, und Ihr habt alles benutzt, wenn es nur der Sowjetunion schaden würde, auch die osteuropäischen Exilanten. Die CIA-Archive sind eindeutig.
Niemand will das heute wissen.
Unseren französischen Freunden sei zugerufen: Auch Euch sind wir dankbar, dass Ihr Teil der Befreiung wurdet, dankbar, dass es unter Euch nicht nur Vichy und seine Mannen gab, sondern auch die Résistance und General de Gaulle.
Und heute habt Ihr einen ehemaligen Botschafter bei der UN und in den USA, der sich nicht scheut, die Wahrheit zu sagen.
“A military alliance is unavoidably seen as a threat by any country which doesn’t belong to it. Any defensive step is always seen as offensive by the other side.”
Übersetzung
Eine Militärallianz ist unvermeidlich eine Bedrohung für alle Länder, die nicht dazugehören. Jeder Verteidigungsschritt wird immer bei der anderen Seite als offensiv angesehen.
Damals, in den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen hat die Sowjetunion nicht alles auf den Tisch gelegt, was sie an Nazi-Dokumenten erbeutet hatte. Sie rückte Dokumente deutscher Schande nur peu-à-peu hinaus, aus Sorge, die Verbrechen an der Sowjetunion könnten wegen der Verbrechen an den europäischen Juden ins Hintertreffen geraten. So, als ließe sich Leiden aufrechnen.
Auch das hat dazu beigetragen, dass sich Erinnerung verzerren konnte.
Der „Jäger-Bericht“, ein Buchhalter der systematischen Ermordung der Juden, wurde der Bundesrepublik erst in den 60er Jahren übermittelt und es dauerte noch sehr viel länger, bis in Jägers Geburtsort der Gräueltaten dieses Mannes erinnert wurde. Heute steht dort ein Mahnmal.
https://phdn.org/archives/www.david-irving.de/jaeger.html
Wer den „Jäger-Bericht“ liest, wird feststellen, dass sich die SS auch „litauischer Partisanen“ (sprich Nationalisten) bei dieser gezielten Vernichtung von deutschen und litauischen Juden bediente. So lief das auch in Lettland, in der Ukraine.
Auch das scheint vergessen.
So, wie vergessen ist, dass Deutschland SS-Soldaten Rente zahlte – Wie lange eigentlich?
https://www.nzz.ch/international/deutschland/warum-zahlt-deutschland-ss-soldaten-rente-ld.1470083
So wie vergessen ist, wie spät die Bundesrepublik Deutschland begann, russische Zwangsarbeiter zu entschädigen und wer alles dabei „durch den Rost“ fiel.
Die ersten, die die Nazis in Konzentrationslager sperrten, waren Deutsche, Widerständler gegen Hitler. Der 20. Juli zählt etwas in Deutschland. Mit Antifaschismus tun wir uns sehr viel schwerer. In Dresden wurde nach der deutschen Einigung zum Beispiel der Fucik-Platz umbenannt. Julius Fucik hat Stalin verehrt, gestorben ist er in den Händen der Gestapo.
https://orf.at/v2/stories/2196580/2196536/
Die deutschen Medien verschweigen, dass auch der ukrainische Präsident zum 9. Mai eine Botschaft übermittelte. Er marschierte durch Kiew, stimmgewaltig wie immer und veröffentlichte alles, zusammen mit Fotos auf Telegram. Das erste Foto war das eines ukrainischen Soldaten.
https://web.archive.org/web/20220510042107/
Das ukrainische Verteidigungsministerium postete die gleichen Fotos auf Twitter, mit folgendem Text (maschinelle Übersetzung)
„Wir sind schlauer als ein Buch. Dies ist ein Lehrbuch über die Geschichte der Ukraine. Wir würden keine Trauer kennen, wenn alle unsere Feinde lesen und die richtigen Schlüsse ziehen könnten“
https://web.archive.org/web/20220509132032/
Das Soldaten-Foto wurde schnell wieder gelöscht. (Twitter gab sein Bestes, das Ganze ungeschehen zu machen.)
Denn offenbar hatten die Kommunikatoren aus Kiew übersehen, dass sie einen ukrainischen Soldaten mit dem Symbol der SS-Division „Totenkopf“
auf der Brust in die Welt schickten.
https://de.wikipedia.org/wiki/SS-Division_Totenkopf
Aber das Internet „vergisst“ nicht.
Nichts von alledem sollten wir je vergessen.
Nicht die Opfer von damals und heute, nicht den Ruf nach Frieden, nicht das Gebot zum Frieden.
„Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders und besser geworden. Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit - für niemanden und kein Land!“.
von Weizäcker, 1985
Werte Frau Erler,
der "Spiegel" war wohl wirklich einmal das "Sturmgeschütz der Demokratie", sprachlich ohne Tadel und mit gut recherchierten Artikeln voller Hintergrundinformationen.
Jetzt ist er auf dem Niveau der "Bild"zeitung angekommen, was die journalistische Qualität betrifft. Noch vor Beginn der militärischen Operation in der Ukraine habe ich die Lektüre dieses Magazins endgültig eingestellt, die Hetze gegen Rußland war unerträglich.
In Verbundenheit und mit freundlichen Grüßen!