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Liebe Petra Erler! Um ehrlich zu sein, habe ich es inzwischen aufgegeben, in politischen Debatten an die Kraft von Argumenten, Fakten und Logik zu glauben. Wenn es um die Stigmatisierung Russlands, ob seiner herrschenden Klasse, seiner Bevölkerung, Kultur oder Geschichte geht, ist offensichtlich jede verbale Entgleisung - natürlich von der Kanzel höherer Moral gepredigt - gerade gut genug, um medial ventiliert zu werden.

Bemerkenswerterweise fällt es den Moralkeulen schwingenden „Werte-Ethikern" nicht einmal im Ansatz auf, dass sie sich dabei des selben Wortschatzes, der selben Klischees und der selben Feindbilder bedienen, die bereits unselige Vorgänger benutzten - und von denen man sich bei anderen Gelegenheit so heftig distanziert. So wurde aus den „Saugriechen“ der Nazis der „Pleitegrieche“ der empörten deutschen Medien. Und so wurde aus dem „russischen Untermenschen“ Goebbels der aktuelle Russe, der zwar wie ein Europäer aussieht, in Wirklichkeit jedoch gar keiner ist. Von dieser Entgleisung einer sich anmaßend und völlig zu Unrecht als Expertin auftretenden Politologin bis zur Unterstellung, Russen sähen zwar wie Menschen aus, seien jedoch in Wirklichkeit keine, ist es nur ein kleiner Schritt. Ist es wirklich zu weit hergeholt, zu fragen, ob genau dies nicht auch beabsichtigt ist?

Es geht natürlich auch „konzilianter“. Kürzlich entleibte sich Alexander Osang intellektuell, als er bei spiegel-online fragte, ob man noch Tolstoi oder Dostojewski lesen könne, ohne dabei an Putin zu denken. Um ehrlich zu sein, habe ich an dieser Stelle aufgehört zu lesen, vermag also nicht zu beurteilen, mit welcher Conclusio Osang den Leser entließ. Aber bereits die Frage wird in ihrer ganzen Absurdität deutlich, wenn man sie einfach auch mal anders stellt. Vermag man etwa US-amerikanische Autoren lesen, ohne an My Lai zu denken? Oder - ein paar Entrüstungsstufen niedriger - sollten wir unseren Protest gegen die unipolare Dominanz der USA und ihres derzeitigen Ober-Protagonisten, Biden, mittels eines Boykotts geschätzter, sehr typischer amerikanischer Kultur-Produkte zum Ausdruck bringen? Also, kein Blues, kein Jazz mehr?

Vielleicht ist es Resignation, vielleicht aber auch Realismus, wenn man sich zunehmend Debatten verweigert, bei denen das nichtige Ergebnis von vornherein feststeht. Aber gerade deshalb verdient Ihre unermüdliche Arbeit höchsten Respekt und natürlich Rezeption sowie Weiterverbreitung.

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Aug 6·edited Aug 6Liked by Petra Erler

Danke für's Nachverfolgen dieser Fälschung anhand der Originalquelle. Offenbar finden diejenigen Historiker mehr Gehör, die Dinge so darstellen wie es einer herschenden Agenda passt, als solche, die seriös mit Quellen umgehen.

Ein anderer dubioser, medial gerne herumgereichter Historiker ist Timothy Snider. Er war mir mal begegnet in der Sendung "Zeitzeichen" des WDR, wo er als "Holocaust Forscher" bezeichnet wurde. Merkwürdigerweise konnte er sich nur auf Englisch äußern und soweit ich weiß, kann er weder Deutsch noch Russisch. Das wäre etwa so, als wenn ein Mittelalterforscher kein Latein könnte und damit nicht eine einzige Quelle im Original lesen könnte. Solide Quellenarbeit und Quellenkritik ist für erfolgreiche Fund Raiser vielleicht nicht so wichtig wie eine schmissige, potentiellen Geldgebern gefällige Epik.

Als ergänzende Info zu Snyder sei auf eine Rezension seines Werkes "Bloodlands" hingewiesen, das zur Legitimierung des gegenwärtigen Geschichts-Revisionisumus u.a. des EU-Parlaments gerne herangezogen wird. Die Rezension stammt vom Historiker Jürgen Zarusky, dessen Forschungsschwerpunkte Nationalsozialismus und Stalinismus waren. Er merkt an, es gehe Snyder "nicht so sehr um die Untersuchung einer geschichtlichen Region als um die Etablierung eines nicht unproblematischen Narrativs." [1]

[1] J. Zarusky: "Timothy Snyders 'Bloodlands'." Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 2012,1 https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2012_1_1_zarusky.pdf

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Aug 5Liked by Petra Erler

Ethnische Russen als Bürger zweiter Klasse in Lettland: Da fällt mir unwillkürlich der Dokumentarfilm „WADIM – Tod nach Abschiebung“ (link weiter unten) von 2011 ein, den ich vor ca. 10 Jahren erstmals sah. Wer ihn kennt, wird ihn genauso wenig wie ich jemals vergessen können. Erzählt wird das Schicksal einer Familie ethnischer Russen, die 1992 ihre lettische Heimat verlässt, weil sie im Gefolge der wiedererlangten Unabhängigkeit Lettlands diskriminiert (als Besatzer beschimpft) wird und der Vater zudem aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit seine Arbeit als Polizist verliert. Als die vierköpfige Familie in Deutschland (vergeblich) Asyl beantragt, ist Wadim, der ältere der beiden Söhne, 6 Jahre alt. Nach 13 Jahren Duldung wird er 2011, wenige Monate vor seinem Schulabschluss nach Lettland abgeschoben. Dann beginnt eine Odyssee...

Wie der Titel schon vermuten lässt, steht im Mittelpunkt des Films die deutsche (und europäische) Abschiebepraxis, aber hat das Unheil nicht in Lettland seinen Anfang genommen? Warum sahen sich zwei erwachsene Menschen überhaupt gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, das Land, in dem sie gelebt und gearbeitet und Kinder auf die Welt gebracht hatten?

link zum Film:

https://www.youtube.com/watch?v=DIigIO0Dbho

Zu den Ursachen der Ausreise: Minute 14:00 bis 18:50

link zur Website zum Film:

http://www.wadim-der-film.de

Auszug aus einem Interview der taz mit Wadims Betreuer (20.01.2012)

Wadim hatte also weder hier noch in Lettland eine Chance - dank der Hamburger Behörden?

Hier sollte er obendrein noch die Abschiebekosten von 4.200 Euro zurückerstatten. In Lettland hatte er als Mensch mit russischen Wurzeln, aber ohne irgendwelche Papiere, keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Man darf Russen einfach nicht zu Letten schicken, denn dort gelten sie aufgrund der Geschichte als Besatzer. Wadim landete zwischen allen Stühlen. Er war de facto staatenlos, de jure hat man ihm und seiner Familie allerdings diesen Status nicht zugebilligt.

Dank dem Abkommen vom 1998.

Ja, in diesem unmoralischen Abkommen steckt das ganze Übel. Warum hat sich ein kleines Land wie Lettland 1998 bereit erklärt, alle ehemaligen Bürger der Sowjetunion aus Deutschland aufzunehmen? Aus Liebe zu diesen Menschen? Lettland hat sich in diesem Abkommen zu nichts verpflichtet, nur zur Übernahme. Das heißt, das Ziel war, dass diese Menschen weiterfahren - nach Armenien, nach Aserbaidschan, in die Ukraine oder sonst wohin. In Lettland hatten die Menschen nichts zu erwarten, und dafür ist Wadim auch ein Beispiel.

https://taz.de/Abschiebung/!5102630/

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Was wäre ich ohne meine kritischen Gegenleser? DANKE!!!!

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Aug 7Liked by Petra Erler

Vielen Dank. Der Artikel müsste doch bitte in den Nachdenkseiten erscheinen, oder dort wenigstens auf ihn hingewiesen werden.

Die Dämonisierungsvorgänge sind schon so lange zu bemerken, wurden sie vor zehn Jahren noch verstärkt in Richtung Islam praktiziert, und erst in zweiter Linie auch Richtung Russland, so ist Russland jetzt Dämon Nr. 1. Vor allem Putin. Wenn mir eine wissenschaftlich arbeitende Frau sagt, sie kenne eigentlich keinen einzigen sympathischen Russen, was sich schon so anhörte, als gäbe es keine - .. ist das fast das Gleiche wie eine ehemalige Kollegin, für die vor zehn Jahren alle arabisch anmutenden Menschen sofort als Terroristen galten. Und was mich am allerallermeisten erschreckt ist, dass die Leute sich selbst nicht zuhören, dass sich dermaßen bereitwillig in dieses feindsinnige Fahrwasser begeben. Dass sie sich selbst nicht anzweifeln.

Wenn die vierte Gewalt sich wieder als solche begriffe und eine unabhängige demokratisch-kritische Instanz würde, die auch für Nachrichten und Talkrunden sauber journalistisch arbeitet, um zu den differenzierten Sichten auf die realen Hintegründe zu gelangen - und wenn sie sich ethischen Grundsätzen verpflichtet fühlte - dann wäre die konsumierende Menschheit weniger in den Zerrbildern unterwegs. Wäre aber weniger für Kriege zu gewinnen.

Liebe Petra, ich bewundere, wie Du unermüdlich aufklärerisch und kritisch arbeitest. Danke. Wichtige Arbeit!!

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Aug 5Liked by Petra Erler

Danke für diese wichtige „Erinnerungsarbeit“!

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Aug 7Liked by Petra Erler

... dass jeder den Skandal ahnt, und ihn keiner sehen will

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Aug 7Liked by Petra Erler

Gestern gerühmter Historiker - heute prostituiert er sich für einen eingebildeten "Werte-Westen": Das hältste im Kopp nich mehr aus!

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Liebe Frau Erler. Wie unglaublich interessant dieser Artikel ist. Vielen Dank. Ich stimme dem Verdacht zu, das hinter der persönlichen Verunglimpfung einer Person eine ausgefeilte Propaganda steht. Es ist durchaus nicht einfach, sich diesem Einfluss auf unser Unterbewusstsein zu entziehen. Und ja, am liebsten würde man alle Nachrichten ausblenden. Ich habe mit Entsetzen die Titelbilder z.B. des Spiegel mit Putin im Vorjahr gesehen, die ebenfalls zur Entmenschlichung seiner Person beitrugen. Wohin soll das noch führen? Zum Glück gibt es Seiten wie die Ihre und auch noch ein paar wenige Zeitungen mit kritischer und richtigstellender Berichterstattung. Nochmals danke.

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Aug 5·edited Aug 5

Ja, es gibt einen Grund, liebe Frau Erler, warum ich auf den Konsum von Dokumentationen, Feature, Artikeln über Russland, Putin, aber inzwischen auch China, Nordkorea, Venezuela und was der zu Feinden erklärten Staaten mehr sind, grundsätzlich verzichte. Schlicht zu viele Lügen und Verdrehungen.

Was mich wirklich empört, dass diese aber nach wie vor als seriös und gut recherchiert gelten. Hört man dann allerdings Interviews mit Leuten, die seit Jahren in diesen Ländern leben, dann bietet sich ein deutlich differenzierteres Bild, was dabei keineswegs kritiklos ist.

Und ansonsten gilt für mich, erst mal vor der eigenen Haustüre kehren und da gibt es wirklich Unmassen an Dreck, unter anderem eben auch diese verlogene Propaganda.

Der Witz ist ja, dass bei diesen üblen Verdrehungen der Wahrheit eigentlich die Russen als Gegendarstellung nur ebendiese Wahrheit verbreiten müssen und insofern für mich in dieser Thematik glaubwürdiger sind als all die angeblich so freien und demokratischen Medien.

Was da innenpolitisch abgeht, ist schlicht die Sache der Russen selbst. Und wenn man bedenkt, wie z.B. bei Corona vorgegangen wurde hierzulande, dann frage ich mich, wo der große Unterschied sein soll zu den (behaupteten oder auch realen) Zuständen in Russland.

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Die Gründe für Ashs oder auch Bidens „Meinungswechsel“, aber auch die Bedeutung Ihres Beitrags finden sich, wie so oft in den letzten drei Jahren, im Essay Wahrheit und Politik von Hannah Arendt. Die Geschichte wird für die jeweils eigenen Intentionen passend gemacht. Letztlich wohl ein Akt, der einer Unfähigkeit geschuldet ist, Verantwortung zu tragen für die eigenen Entscheidungen.

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1. Dahinter stehen nun ja auch 2000 a Erfahrungen der Kirchen mit der Institution der Predigten. 2. Man sollte wohl mehr zwischen der Institution Präsident und der sie realisierenden Person differenzieren. 3. Ich staune stets über die infantile Unbedarftheit der Russen, die derart Angriffe nicht bemerken, nicht parieren und nicht ahnden, 4. deren Kultur der Rhetorik ist derzeit nicht im 21. Jahrhundert angekommen (ich spreche Ru)

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Großartig! Danke!

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